Vergeltung
änderte seine Haltung, versuchte locker zu wirken, doch das war alles andere als glaubwürdig.
Carol musterte ihn. Jetzt hatte sie eine deutlichere Vorstellung davon, was sich abgespielt hatte. Sam hatte Kevin sitzenlassen, um seinem Bauchgefühl zu folgen. Es war immer unklug, sich so zu verhalten, aber besonders, wenn ein Mörder frei herumlief. »Du weißt doch, dass ihr immer zu zweit arbeiten sollt, wenn ihr mit Leuten zu tun habt, denen klar ist, was sie alles damit erreichen können, wenn sie bei jeder Gelegenheit ›Foul‹ schreien. Sam war ungeschützt, das hättest du nicht zulassen dürfen.« Nach Carols Maßstäben war das eine sehr milde Rüge, aber sie genügte, um Kevins milchweiße Haut dunkelrot anlaufen zu lassen.
»Verstehe«, sagte Kevin mit aufrührerischer Miene. »Es war mir nicht klar, dass er sie gleich vor Ort vernehmen wollte.«
Carol schüttelte mit einem ironischen Lächeln den Kopf. »Und wie lange arbeitest du schon mit Sam zusammen?«
Kevin stand auf. »Ich verstehe, was Sie meinen.«
Carol folgte ihm ins Großraumbüro zurück, sie suchte Paula. Doch während sie mit Kevin gesprochen hatte, war Paula verschwunden. »Hier geht’s ja zu wie auf der Brücke der Marie Celeste «, sagte sie laut.
»Ich bin noch da«, meldete sich Staceys Stimme hinter den Monitoren. »Ich schau mir das Material aus den Straßenüberwachungskameras an.«
»Sollte das nicht jemand von der Verkehrspolizei machen?«
»Wollen Sie die Wahrheit hören? Ich traue denen nicht zu, dass sie es richtig machen. Sie langweilen sich so leicht.«
Carol ging in ihr Büro zurück und konnte dabei ein Lächeln nicht unterdrücken. Ihre verbohrten, arroganten Spezialisten würden niemals zu normalen Teamplayern werden. Gott helfe den künftigen Chefs, bei denen ihre Leute landen würden. Sie wünschte sich fast, hierbleiben zu können, nur um das mitzuerleben.
Vance war erst seit ein paar Stunden frei, aber das genügte Maggie O’Toul, um sich eine Verteidigungsstrategie zu basteln. Bis jetzt hatten die Medien noch nicht entdeckt, dass sie verantwortlich war für die Empfehlung, Vance in die therapeutische Abteilung zu versetzen. Aber sie wusste genau, was geschehen würde. Als Alvin Ambrose sie im Amt für Bewährungshilfe aufsuchen wollte, tat die Empfangsdame zunächst, als habe sie noch nie von ihr gehört. Er hatte seinen Ausweis vorzeigen müssen, damit sie auch nur die Existenz einer Frau Dr. O’Toul zugab. Das hatte seine Stimmung nicht gerade gehoben.
Maggie O’Touls Büro war ein kleiner Raum im zweiten Stock mit Aussicht auf ein ehemaliges Kino auf der anderen Straßenseite, aus dem jetzt eine Lagerhalle für Teppiche geworden war.
Als Ambrose auf ihre Aufforderung »Kommen Sie rein« hin den Raum betrat, saß sie mit dem Rücken zur Tür und starrte aus dem Fenster, als spielte sich etwas Bemerkenswertes in der Teppichwelt ab. Das Büro war vollgestopft mit Büchern, Aktenordnern und Papieren, aber sie waren so untergebracht, dass der Gesamteindruck von Ordentlichkeit entstand. Ganz anders als die Umgebung, in der Tony Hill arbeitete.
»Dr. O’Toul?«, sagte Ambrose.
Langsam und anscheinend widerstrebend drehte sie sich zu ihm herum. Sie hatte eines dieser kraftlos hübschen Gesichter, von Angst gezeichnet, die Ambrose immer das Gefühl gaben, die Oberhand zu haben. Er fand, ihr Aussehen gleiche dem, was man in der Zeit, als Audrey Hepburn ein Star gewesen war, »elfengleich« genannt hatte. Ihr Gesicht war umrahmt von gefärbtem dunklem Haar mit einem knabenhaften Kurzschnitt, der die Tatsache betonte, dass sie die fünfzig hinter sich hatte. »Sie sind wohl Sergeant Ambrose«, sagte sie mit müder Stimme, und ihre Mundwinkel zogen sich nach unten. Ihr Lippenstift schien den falschen Farbton zu haben für ihren Teint. Er wusste nicht viel über solche Dinge, aber er hatte immer ein gutes Auge gehabt für das, was einer Frau stand. Wenn er seiner Frau als Geschenk Kleider oder Schmuck kaufte, musste er nie lange nachdenken; und sie schien die Dinge, die er ihr gekauft hatte, immer gern zu tragen. Maggie O’Toul sah nicht aus wie eine glückliche Frau.
Gott, für wen hielt er sich eigentlich? Tony Hill? »Ich muss mit Ihnen sprechen …«
»Über Jacko Vance«, unterbrach sie ihn und brachte den Satz zu Ende. »Soll ich den Sündenbock geben? Das Blutopfer? Die Person, die von der Daily Mail an den Pranger gestellt wird?«
»Ersparen Sie uns doch bitte das Theater«, konterte er
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