Vergiss den Sommer nicht (German Edition)
ich schloss, dass es ein Rüde war. Außerdem trug er eine Hundemarke. Er hatte also ein Zuhause, von wo er offenbar ausgebüxt war. Nun, das kannte ich ja irgendwie.
Irgendwo musste er ja hingehören, und das war – entgegen seiner derzeitigen Vorstellung – definitiv nicht unsere Einfahrt. Ich machte einen Bogen um ihn und ging zurück zum Haus. Der Hund würde schon selber klarkommen, dachte ich mir. Doch nach wenigen Schritten hörte ich ein leises Klimpern hinter mir. Ich drehte mich um und sah, dass der Hund mir folgte. Augenblicklich erstarrte er und setzte sich wieder hin, als ob ich dann nicht merken würde, dass er sich bewegt hatte. Ich kam mir vor wie bei diesem Kinderspiel, wo die Mitspieler auf Kommando zur Salzsäule erstarren müssen. Angestrengt versuchte ich mich an die einzelnen Lektionen aus der Hundesendung Top Dog zu erinnern. »Nein«, sagte ich dann so bestimmt wie möglich und zeigte in Richtung Straße. »Ab.«
Er legte ein Ohr an, neigte den Kopf und musterte mich fast hoffnungsvoll, während sein Schwanz auf den Boden schlug. Doch er ging nicht.
Bei genauerem Hinsehen fiel mir auf, dass er ein bisschen verwahrlost aussah und sein Fell an manchen Stellen ziemlich verfilzt war. Aber das war ja auch kein Wunder, denn wenn seine Besitzer sich richtig um ihn gekümmert hätten, wäre er wohl kaum mitten in der Nacht alleine unterwegs gewesen.
»Ab«, wiederholte ich, diesmal mit noch mehr Nachdruck. »Hopp.« Dabei fixierte ich ihn ununterbrochen, genau wie in der Hundesendung immer vorgeführt wurde. Er musterte mich noch einen Moment, legte dann auch noch das andere Ohr an und stand – seufzend, so schien es mir fast – schließlich auf. Das machte von der Größe her allerdings kaum einen Unterschied, da seine Beine etwas kurz geraten waren. Er warf mir nochmals einen langen Hundeblick zu, aber ich bemühte mich, kein Zaudern zu zeigen. Im nächsten Augenblick setzte er sich in Bewegung und lief langsam durch unsere Einfahrt hinaus.
Draußen blieb er kurz stehen, wandte sich dann nach links und lief die Straße hinunter. Und obwohl ich eigentlich gleich hineingehen wollte, sah ich dem Hund nach, wie er in der Ferne immer kleiner wurde, bis das Klimpern seiner Marke verklang und er an der nächsten Straßenbiegung ganz aus meinem Blickfeld verschwand.
Kapitel 6
Am nächsten Morgen fuhr ich erschrocken aus dem Schlaf hoch. Blinzelnd sah ich mich in meinem Zimmer um und hatte einen Moment lang keine Ahnung, wo ich war. Dann fiel mein Blick auf den Pinguin auf der Kommode und ich war wieder im Bilde. Stöhnend wälzte ich mich auf die andere Seite, doch obwohl ich die Augen fest zumachte, wusste ich genau, dass ich nicht noch mal einschlafen konnte.
Also setzte ich mich auf und blinzelte in das Sonnenlicht, das durch mein Fenster fiel. Es sah aus, als würde es ein schöner Tag werden, was immer das für mich bedeuten sollte. Ich stand auf, und nachdem ich den Pinguin einen Augenblick lang betrachtet hatte, schnappte ich ihn, stopfte ihn in das oberste Fach meines Kleiderschranks und machte die Tür wieder zu, damit er nicht mehr das Erste war, was ich morgens beim Aufwachen sah.
Während ich eilig durch den Flur ging, band ich mir die Haare zu einem unordentlichen Pferdeschwanz zusammen. Es war unglaublich still im Haus. Als ich in die Küche kam, sagte mir ein Blick auf die Uhr an der Mikrowelle auch, warum – es war früh um acht. Noch vor Kurzem wäre mein Vater um diese Zeit schon seit Stunden auf den Beinen gewesen. Er hätte sich schon einen Kaffee gemacht, seine morgendlichen Mails zur Hälfte beantwortet und seinen Arbeitstag in Angriff genommen. Der Anblick der leeren Kaffeemaschine genügte, um mich daran zu erinnern, dass die Dinge nun anders lagen, dass die Rückkehr zur Normalität, auf die ich irgendwie gehofft hatte, nicht stattfinden würde. Ich hätte mir gerne selber einen Kaffee gemacht, hatte aber keinen Schimmer, wie die Maschine funktionierte – dafür war immer mein Vater zuständig gewesen, genauso wie wichtige Informationen im Kopf zu behalten.
Da ich keine Lust hatte, alleine in dem stillen Haus rumzusitzen, ging ich nach draußen. Normalerweise wäre ich zum Steg gegangen, aber nach meiner gestrigen Begegnung mit Henry war ich mir nicht sicher, ob ich unseren Steg je wieder betreten würde. Stattdessen schlüpfte ich in meine Flip-Flops, ging die Einfahrt entlang und dachte, dass die anderen sicher wach sein würden, wenn ich von meinem Spaziergang
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