Vergiss die Toten nicht
»und ich habe dir etwas mitgebracht. Opa wollte es eigentlich wegwerfen.« Es war das Elfenbeinschächtelchen, das Mama auf ihrer Frisierkommode stehen hatte, als ich noch klein war. Es roch ein wenig nach Holz, und ich liebte diesen Duft. Wenn Mama und Papa auf Reisen waren, schlich ich mich oft in ihr Zimmer und nahm es.
Und wenn ich es aufmachte, fühlte ich mich meiner Mutter so nah.
An diesem Tag geschah es wieder. Da das Schächtelchen so lange nicht geöffnet worden war, war der Geruch sehr stark. Und in diesem Moment war es, als stünde Mama neben mir im Zimmer. Ich fragte Tante Gerti, warum sie mir ausgerechnet dieses Schächtelchen geholt hatte.
»Ich wusste es einfach«, entgegnete sie. »Deine Mutter und dein Vater werden bei dir sein, solange du sie brauchst. Und du wirst ihnen Freiheit geben, wenn du bereit bist, sie loszulassen.«
Mac kann es nicht ausstehen, wenn sie so daherredet, dachte Nel . Aber Gerti behielt Recht. Nachdem meine Eltern mich in Maui gerettet hatten, konnte ich sie loslassen. Und das habe ich auch getan. Doch Adam brauche ich noch zu sehr. Ich muss mich an einem Gegenstand festhalten, der mir das Gefühl gibt, dass er noch bei mir ist wenigstens für eine kleine Weile. Erst dann kann ich mich von ihm verabschieden.
»Mrs. Cauliff, fühlen Sie sich nicht wohl?«
»Oh, doch. Tut mir Leid. Ich bin immer noch ein wenig durcheinander«, entgegnete Nell mit stockender Stimme.
»Hören Sie, ich will Ihnen in Ihrer augenblicklichen Situation ja nicht zur Last fallen, aber wir müssen wirklich dringend noch heute mit Ihnen reden.«
Nel schüttelte den Kopf, eine unwillkürliche Geste, die sie von Mac übernommen hatte. Er tat es immer, wenn er mit etwas nicht einverstanden war, das aber nicht laut aussprechen wollte.
»Meinetwegen. Kommen Sie vorbei, wenn es unbedingt sein muss«, meinte sie knapp zu Brennan und hängte auf.
18
A
m Mittwochnachmittag holten Brenda Curren, Lisas Nachbarin, und ihre siebzehnjährige Tochter Morgan Kyle, Kelly und Charley ab, um mit ihnen ins Kino und danach zum Essen zu gehen.
»Steigt zu Morgan ins Auto«, befahl Brenda. »Ich muss noch rasch mit eurer Mutter reden.« Sie wartete, bis die drei Kinder draußen waren, und sagte dann: »Lisa, mach nicht so ein besorgtes Gesicht. Wir werden gut auf die Kleinen aufpassen. Es war richtig, sie heute nicht in die Schule zu schicken. Aber du brauchst jetzt ein wenig Zeit für dich.«
»Ach, ich weiß nicht«, erwiderte Lisa mit schleppender Stimme. »Wenn ich in die Zukunft blicke, sehe ich nur eine endlose, leere Zeit vor mir, und ich frage mich, was ich mit all den Stunden und Tagen anfangen soll.« Als sie ihre Nachbarin ansah, bemerkte sie deren forschenden Blick. »Doch natürlich hast du ganz Recht. Ich muss Jimmys Schreibtisch aufräumen und die Halbwaisenrente für die Kinder beantragen. Wenigstens ist so ein Teil des Lebensunterhalts gesichert, während ich mir überlege, wie es weitergehen soll.«
»Ihr habt doch bestimmt eine Versicherung, Lisa.« Brenda verzog besorgt das freundliche Gesicht. »Natürlich geht mich das nichts an. Aber da Ed sich ständig gegen alles Mögliche versichert, fällt mir so etwas eben zuerst ein.«
»Eine kleine«, erwiderte Lisa. Genug für Jimmys Beerdigung, mehr nicht, fügte sie im Geiste hinzu, behielt es aber für sich.
Nicht einmal ihre beste Freundin brauchte das zu erfahren.
Sprich nicht über deine Vermögensverhältnisse, diese Warnung hatte ihre Großmutter ihr mit auf den Weg gegeben. Es ist ganz allein deine Sache, was du besitzt, Lisa. Sollen sie doch selbst Vermutungen anstellen.
Nur, dass es da nicht viel zu vermuten gibt, dachte Lisa, und sie fühlte sich, als laste eine zentnerschwere Bürde auf ihren Schultern.
Wir
haben
noch
vierzehntausend
Dollar
Kreditkartenschulden, und die Zinsen belaufen sich auf achtzehn Prozent.
»Wenigstens hat Jimmy das Haus immer gut in Schuss gehalten. Ed ist zwar lange nicht so handwerklich begabt wie er, aber ich soll dir von ihm ausrichten, er wird sein Möglichstes tun, falls etwas repariert werden muss. Du weißt schon, was ich meine. Klempner und Elektriker sind ja unbezahlbar.«
»Stimmt.«
»Lisa, das mit Jimmy tut uns allen so leid. Er war ein sehr netter Kerl, und wir lieben euch beide. Wir werden euch helfen, wo wir nur können. Darauf kannst du dich verlassen.«
Als Lisa sah, dass Brenda die Tränen unterdrückte, zwang sie sich zu einem Lächeln. »Das weiß ich. Ohne dich wäre ich
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