Vergiss die Toten nicht
sich einen Pullover zu holen.
Am Samstagmorgen war Liz, der rettende Engel, mit einer Tüte Lebensmittel bei ihr erschienen. »Sie müssen etwas essen«, verkündete sie energisch. »Und ich wusste nicht, was Sie noch im Haus haben. Deshalb habe ich Grapefruits, Speck und ofenfrische Bagels mitgebracht.«
Nachdem sie sich die zweite Tasse Kaffee eingeschenkt hatten, sagte sie: »Nell, eigentlich geht es mich ja nichts an – oder vielleicht doch. Mac leidet Ihretwegen sehr. Sie dürfen ihm gegenüber nicht so abweisend sein.«
»Er hat nie ein gutes Haar an Adam gelassen, und im Augenblick fällt es mir schwer, ihm das zu verzeihen.«
»Er wollte doch immer nur Ihr Bestes, und er war überzeugt, dass alles, was Ihnen gut tut – also auch die Kandidatur –
ebenfalls positiv für Ihre Ehe ist.«
»Nun, wir werden es nicht mehr erfahren.«
»Denken Sie darüber nach.«
Seit diesem Tag kam Liz täglich vorbei. »Nell, Mac wartet noch immer auf Ihren Anruf«, hatte sie an diesem Morgen geseufzt.
»Wir werden uns beim Trauergottesdienst und danach bei der Totenfeier sehen. Erst einmal muss ich mich an die neue Situation gewöhnen, ohne dass er mir ständig Vorschriften macht.«
Daran, hier in dieser Wohnung zu leben, die ich drei Jahre lang mit Adam geteilt habe, überlegte sie. Daran, allein zu sein.
Vor elf Jahren, nach ihrem Abschluss an der Universität von Georgetown, hatte sie die Wohnung gekauft, und zwar mit Geld aus einem Treuhandfonds, das an ihrem einundzwanzigsten Geburtstag frei geworden war. Damals hatte der schwankende Immobilienmarkt in New York gerade eine Talsohle erreicht, die Nachfrage war gering, und so hatte sich die geräumige Eigentumswohnung als ausgezeichnete Investition entpuppt.
»Das kleine Nest, das ich uns bauen könnte, wäre ganz sicher nicht in dieser Preisklasse«, hatte Adam gewitzelt, als sie Heiratspläne zu schmieden begannen. »Aber gib mir noch zehn Jahre, dann sieht das anders aus. Ehrenwort.«
»Warum können wir diese zehn Jahre nicht hier verbringen?
Zufällig liebe ich diese Wohnung.«
Nel hatte ihm einen der großen Wandschränke im Schlafzimmer abgetreten und die antike Kommode, die einst ihrem Vater gehört hatte, aus Macs Haus geholt. Nun ging sie zu dem Möbel hinüber und griff nach dem ovalen Silbertablett, das dort neben ihrem Hochzeitsfoto lag. Hier hatte Adam vor dem Zubettgehen immer seine Uhr, die Schlüssel, Kleingeld und seine Brieftasche deponiert.
Mir war gar nicht klar, wie einsam ich mich gefühlt hatte, bevor ich heiratete und mit Adam zusammenlebte, dachte sie.
Am Donnerstag hat er sich im Gästezimmer umgezogen, weil er mich nicht aufwecken wollte. Und ich habe mich schlafend gestellt, da ich keine Lust hatte, über mein Gespräch mit Mac und über meinen Entschluss, für seinen Sitz zu kandidieren, zu reden.
Plötzlich erschien es ihr ebenso bedeutsam wie beunruhigend, dass sie ihn das letzte Mal nicht dabei beobachtet hatte, wie er ins Bett gegangen war. Liz hatte vorgeschlagen, ihr in der nächsten Woche beim Zusammenpacken von Adams Kleidern und persönlichen Dingen zu helfen. »Ständig wiederholen Sie, dass Ihnen sein Tod auch weiterhin unwirklich vorkommt. Und ich glaube, Sie werden ihn erst verkraften, wenn Sie sich mit der Wirklichkeit abfinden. Vielleicht glauben Sie es endlich, wenn seine Sachen nicht mehr da sind.«
Noch nicht, dachte Nel . Noch nicht!
Das Telefon läutete. Widerstrebend nahm sie ab. »Hallo.«
»Mrs. Cauliff?«
»Ja.«
»Hier ist Detective Brennan. Wäre es Ihnen recht, wenn mein Kollege, Detective Sclafani, und ich kurz vorbeikommen, um mit Ihnen zu reden?«
Nicht jetzt, schoss es Nell durch den Kopf. Ich will allein sein, etwas in der Hand halten, das Adam gehört hat, und mich ihm nah fühlen.
Tante Gerti hatte ihr erklärt, sie könne durch einen Gegenstand aus dem Besitz ihrer Eltern Kontakt mit ihnen aufnehmen. Sechs Monate nach ihrem Tod hatte sie im oberen Stockwerk von Macs Haus in einem Sessel gekauert, ein Buch in der Hand, zu dem sie eigentlich einen Aufsatz hätte schreiben müssen. Obwohl sie nicht las, hörte sie nicht, wie Tante Gerti das Zimmer betrat.
Ich habe nur dagesessen und aus dem Fenster gestarrt, dachte Nel . Wie sehr habe ich die beiden geliebt, und ich sehnte mich in diesem Augenblick schrecklich nach meiner Mutter.
Gerti kam herein und kniete sich neben mich. »Sag einen Namen«, sagte sie leise.
»Mama«, flüsterte ich.
»Das habe ich gespürt«, erwiderte sie,
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