Vergiss die Toten nicht
hellseherische Fähigkeiten verfügen, dachte Gerti, und dass sie diese Gabe dazu einsetzen, anderen zu helfen. Außerdem macht ihr die Vorstellung Angst, sie selbst könne diese Gabe ebenfalls besitzen. Und das ist kein Wunder, denn schließlich lacht Cornelius sie immer nur aus und redet von
»Hirngespinsten«.
Tränen stiegen Gerti in die Augen, als sie sich erinnerte, wie die zehnjährige Nel in ihren Armen geschluchzt hatte: »Tante Gerti, Mama und Papa haben sich wirklich von mir verabschiedet. Weißt du noch, wie Papa mir immer übers Haar gestrichen hat? Und auf dem Pausenhof hat er es wieder getan.
Dann hat Mama mich geküsst. Ich habe es ganz deutlich gespürt, und ich musste weinen. Da wusste ich, dass sie tot waren. Ganz genau. Aber Opa behauptet, es sei nicht so gewesen. Ich würde mir das alles nur einbilden.«
Ich habe Cornelius gefragt, wie er es sich erklärt, dass Nell dieses Erlebnis in genau dem Augenblick hatte, als das Flugzeug ihrer Eltern vom Radarschirm verschwand, überlegte Gerti weiter. Wie könne er sich so sicher sein, dass sich die Begegnung mit ihren Eltern nur in Nells Phantasie abgespielt hätte? Er antwortete, ich setzte Nel Flausen in den Kopf.
Gerti kam in den Sinn, wie Nell auch den Tod ihrer Großmutter Madeline vorausgeahnt hatte. Damals war sie erst vier, doch ich habe gesehen, wie sie die Treppe hinunterlief. Sie war so glücklich, weil Oma nachts in ihrem Zimmer gewesen war, und sie dachte, das hieß, sie sei aus dem Krankenhaus zurück. Aber Cornelius hatte auch das als Traum abgetan.
Auf keinen Fall erzähle ich ihm, was Bonnie Wilson mir gesagt hat, nahm Gerti sich vor. Ganz gleich, ob Nell selbst mit Bonnie reden will, sie muss mir versprechen, Cornelius kein Sterbenswörtchen zu verraten, schwor sie sich.
Um acht Uhr abends rief sie Nell an. Der Anrufbeantworter meldete sich nach dem dritten Läuten. Wahrscheinlich will sie heute in Ruhe gelassen werden, sagte sich Gerti. Möglichst ruhig begann sie, eine Nachricht aufzusprechen: »Nell, ich wollte mich nur erkundigen, wie es dir geht«, fing sie an, zögerte kurz und platzte dann heraus: »Nell, ich muss dir ganz dringend etwas erzählen, ich…«
Sie hörte ein Klicken, als abgehoben wurde. »Tante Gerti, ich bin zu Hause. Stimmt etwas nicht?«
An Nells belegter Stimme erkannte Gerti, dass ihre Nichte geweint hatte. Sie beschloss, kein Blatt vor den Mund zu nehmen. »Nell, ich habe Neuigkeiten für dich. Bonnie Wilson, eine Hellseherin und Freundin von mir, hat mich vorhin besucht.
Sie stellt Kontakt zwischen Verstorbenen und ihren Hinterbliebenen her.
Nel , ich kann dir einige Leute nennen, die absolutes Vertrauen zu ihr haben. Sie ist keine Betrügerin. Heute hat sie mir berichtet, Adam hätte sich aus dem Jenseits mit ihr in Verbindung gesetzt und wolle mit dir sprechen. Nell, ich bitte dich, mit mir zu Bonnie zu gehen.«
All das sprudelte sie, so schnell sie konnte, hervor, da sie befürchtete, Nell könne einfach den Hörer auflegen. Außerdem kostete es sie einige Überwindung, ihrer Nichte Bonnies Besuch zu schildern.
»Gerti, ich glaube nicht an dieses Zeug«, erwiderte Nell leise.
»Das weißt du doch ganz genau. Mir ist klar, wie viel es dir bedeutet, aber mir sind diese Dinge ziemlich fremd. Also verschone mich bitte in Zukunft damit, vor allem, wenn es mit Adam zu tun hat.«
Gerti zuckte zusammen, als ein Klicken ihr sagte, dass Nell eingehängt hatte. Am liebsten hätte sie gleich wieder Nells Nummer gewählt und sich für ihre ungebetene Einmischung zu diesem so ungünstigen Zeitpunkt entschuldigt.
Allerdings ahnte Gerti nicht, dass Nel zitternd vor Angst und Ungewissheit neben dem Telefon stand.
Zufällig habe ich Bonnie Wilson vergangenes Jahr in einer dieser merkwürdigen Fernsehsendungen gesehen, dachte Nell.
Die Zuschauer wurden aufgefordert, sich zu melden und die hellseherischen Fähigkeiten der Studiogäste auf die Probe zu stellen. Und es war wirklich erstaunlich, welche Tatsachen Bonnie einigen Leuten im Publikum auf den Kopf zusagte.
Besonders gut erinnerte sich Nell an eine Frau, die von Bonnie etwas über ihren bei einem Autounfall gestorbenen Mann wissen wollte. Die Hellseherin hatte ihr eine Szene aus ihrem Leben sehr eindrucksvoll geschildert:
»Sie haben ihn in dem Restaurant erwartet, wo sie ihre Verlobung gefeiert haben. Es war ihr fünfter Hochzeitstag. Er möchte Ihnen sagen, dass er sie liebt und dass er sich um die vielen gemeinsamen Jahre mit Ihnen, auf die er
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