Vergiss die Toten nicht
lächelte sie an.
»Offenbar hatten Sie wirklich eine grüne Welle«, witzelte Nell.
»Beinahe. Sie sehen bezaubernd aus, Nell. Schön, dass Sie gekommen sind. Ich fürchte, ich habe Ihnen keine Chance gelassen abzulehnen. Das ist eben das Problem mit uns Ärzten.
Wir verlangen von unseren Mitmenschen bedingungslosen Gehorsam.«
»Sie haben mich nicht unter Druck gesetzt. Ich freue mich, dass Sie mich überredet haben, vor die Tür zu gehen. Und um ehrlich zu sein, sterbe ich vor Hunger.«
Das stimmte. Im Restaurant roch es köstlich nach italienischen Gerichten, und als Nell sich umblickte, stellte sie fest, dass der Duft von einem Teller Spaghetti stammte, den der Kellner gerade am Nebentisch servierte. Lachend drehte sie sich wieder zu Dan um. »Am liebsten würde ich dem Ober den Teller aus der Hand reißen.«
Bei einem Glas Wein plauderten sie über gemeinsame Bekannte in Washington. Als Parmaschinken und Melone gebracht wurden, waren die Präsidentschaftswahlen an der Reihe, und sie stellten fest, dass sie nicht dieselbe Partei wählten.
Und während sie ihre Spaghetti verspeisten, erzählte Dan von seinen Gründen, nach New York zu ziehen.
»Unser
Krankenhaus
spezialisiert
sich
gerade
auf
Brandverletzungen bei Kindern, und da das mein Fachgebiet ist, habe ich so Gelegenheit, etwas dazu beizutragen.«
Er sprach auch über seine Suche nach seiner Mutter.
»Heißt das, dass sie einfach verschwunden ist?«, rief Nel aus.
»Sie litt unter schweren Depressionen und war Alkoholikerin.
Deshalb glaubte sie, dass ich bei meinen Großeltern besser aufgehoben wäre.« Er zögerte. »Es ist eine sehr lange Geschichte«, sagte er dann. »Wenn es Sie interessiert, erkläre ich Ihnen eines Tages alles. Der springende Punkt ist, dass meine Mutter nun älter wird. Der Himmel weiß, wie sehr sie ihre Gesundheit in all den Jahren vernachlässigt und geschädigt hat.
Hier in New York kann ich etwas tun, um sie zu finden. Eine Weile dachte ich, ich wäre fast am Ziel. Aber nun ist sie wie vom Erdboden verschluckt. Seit dem letzten Herbst hat sie niemand gesehen.«
»Glauben Sie denn, sie will von Ihnen gefunden werden, Dan?«
»Sie ist fortgegangen, weil ich einen beinahe tödlichen Unfall hatte, an dem sie sich die Schuld gab. Ich möchte ihr sagen, dass dieser Unfall sich im Nachhinein als positiver Anstoß entpuppt hat, aus dem ich viel gelernt habe.«
Er berichtete von seinem Besuch in der Vermisstenabteilung der Polizei und fügte hinzu: »Ich kann mir nicht vorstellen, dass es etwas gebracht hat.«
»Vielleicht könnte Mac Ihnen helfen«, schlug Nel vor. »Er hat großen Einfluss, und ich weiß, dass es ihn nur ein paar Anrufe kosten würde, damit die Polizei gründlich in ihren Akten nachsieht. Ich werde mit ihm reden, aber wahrscheinlich wäre es das Beste, wenn Sie sich selbst bei ihm melden. Ich gebe Ihnen seine Visitenkarte.«
Als der Espresso serviert wurde, sagte Dan: »Nell, jetzt spreche ich schon den ganzen Abend nur über mich. Wenn es Ihnen zu viel ist, brauchen Sie es bloß zu sagen. Nun habe ich eine Frage an Sie: Wie geht es Ihnen wirklich? «
»Mir?« Nell warf ein Stück Zitronenschale in ihre Espressotasse. »Was soll ich nur darauf antworten? Wenn ein Mensch stirbt und man weder eine Leiche, noch einen Sarg oder einen Trauerzug zum Friedhof hat, ist es schwer, einen Schlussstrich zu ziehen. Es ist fast, als wäre dieser Mensch noch da, obwohl man weiß, dass das nicht stimmt. So fühle ich mich zurzeit. Mir kommt es immer noch ein wenig unwirklich vor.
Ständig sage ich mir: ›Adam ist tot. Adam ist tot‹, doch die Worte scheinen nichts zu bedeuten.«
»War es beim Tod Ihrer Eltern auch so?«
»Nein. Ich wusste, dass sie gestorben waren. Der Unterschied ist, dass sie im Gegensatz zu Adam – und da bin ich ganz sicher –
bei einem Unfall ums Leben kamen. Überlegen Sie mal. Vier Menschen wurden auf der Jacht getötet. Jemand wollte einen von ihnen oder womöglich sogar alle vier loswerden. Und der Täter läuft noch frei herum, genießt das Leben und isst vielleicht gerade zu Abend, so wie wir.« Sie hielt inne, betrachtete ihre Hände und blickte ihn dann an. »Dan, ich muss rauskriegen, wer es war, und das nicht nur um meinetwillen. Lisa Ryan, eine junge Frau mit drei kleinen Kindern, braucht ebenfalls Gewissheit. Ihr Mann war eines der vier Todesopfer.«
»Ist Ihnen klar, Nell, dass jemand, der vorsätzlich vier Menschen umbringt, möglicherweise gefährlich sein
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