Vergiss mein nicht
wahrscheinlich auf Krücken gehen müssen«, sagte Sara. Er hörte ein Klopfgeräusch und nahm an, dass sie sich im Büro befand. Er sah auf die Uhr und wunderte sich, warum sie schon so früh bei der Arbeit war, aber dann fiel ihm der Zeitunterschied ein. Sara war ihm eine Stunde voraus.
» Ms Harris von gegenüber wird nach ihr sehen«, erklärte Jeffrey. Er wusste genau, dass Jean Harris alles in ihren Kräften Stehende tun würde, um einer Nachbarin zu helfen. Sie arbeitete als Diätassistentin am städtischen Krankenhaus und hatte Jeffrey oft nach der Schule zu sich gewinkt, damit er auf jeden Fall eine warme Mahlzeit bekam. Mit ihren drei hübschen Töchtern am Tisch sitzen zu dürfen war reizvoller gewesen als Ms Harris’ Hühnereintopf, aber irgendwie hatte Jeffrey doch beides genossen.
Sara sagte: » Du musst ihr unbedingt sagen, dass sie wegen der Schmerzmittel keinen Tropfen Alkohol trinken darf. Oder richte das ihrem Arzt aus. Ja?«
Er betrachtete seine Socke und stellte fest, dass sie immer noch falsch herum am Fuß saß. Er drehte sie und fragte: » Hast du deswegen angerufen?«
» Ich habe deine Nachricht wegen Mark Patterson abgehört. Weswegen soll ich ihm Blut abnehmen?«
» Vaterschaftstest«, informierte er sie. Das Bild, welches durch dieses Wort heraufbeschworen wurde, gefiel ihm ganz und gar nicht.
Sara blieb einen Moment stumm und fragte dann: » Bist du sicher?«
» Nein«, antwortete er. » Ganz und gar nicht. Ich dachte mir nur, ich müsste einfach alle Möglichkeiten überprüfen.«
» Wie hast du denn so schnell eine gerichtliche Anordnung bekommen?«
» Keine Anordnung. Sein Vater schickt ihn freiwillig.«
Sie traute noch immer ihren Ohren nicht. » Ohne Anwalt?«
Jeffrey seufzte. » Sara, ich habe das alles gestern Abend auf deinen Anrufbeantworter gesprochen. Ist sonst noch was?«
» Nein«, antwortete sie etwas weniger brüsk. Dann: » Ja, eigentlich schon.«
Er wartete. » Und?«
» Ich wollte nur hören, ob es dir gut geht.«
Auf diese Frage konnte er nur mit Sarkasmus reagieren. » Abgesehen davon, dass ich in dem Bewusstsein aufgewacht bin, ein dreizehnjähriges Mädchen erschossen zu haben, geht es mir richtig prima.«
Sie schwieg, und er ließ das Schweigen andauern, weil er nicht wusste, was er ihr hätte sagen sollen. Sara hatte ihn schon sehr lange nicht mehr angerufen, nicht einmal in Angelegenheiten, die das County betrafen. In der Vergangenheit hatte sie ihm die Schriftstücke, die für seine Fälle wichtig waren, gefaxt oder Carlos, ihren Assistenten, geschickt, wenn es sich um vertrauliche Informationen handelte. Seit ihrer Scheidung kamen persönliche Gespräche nicht infrage, und auch als sie angefangen hatten, sich wieder miteinander zu verabreden, war es immer Jeffrey gewesen, der zum Telefon gegriffen.
» Jeff?«, fragte Sara.
» Ich war gerade in Gedanken«, sagte er, um aber das Thema zu wechseln, bat er: » Erzähl mir doch noch ein bisschen mehr über Lacey.«
» Hab ich doch schon gestern getan. Sie ist ein gutes Kind«, sagte Sara, und er hörte, dass ihr Ton nicht so ganz echt klang. Er wusste, dass auch sie sich für Jenny Weavers Tod verantwortlich fühlte, aber er konnte daran nichts mehr ändern.
Sara fuhr fort: » Sie ist gescheit, lustig. In vielem genau wie Jenny.«
» Stehst du ihr nahe?«
» So nahe, wie man einem Mädchen stehen kann, das man nur ein paar Mal im Jahr sieht.« Sara hielt inne und fügte dann hinzu: » Ja. Einigen von ihnen kommt man näher. Ich fand Zugang zu Lacey. Ich glaube, sie hatte sich ein bisschen in mich verknallt.«
» Das klingt seltsam«, kommentierte er.
» Ist es aber eigentlich gar nicht«, klärte Sara ihn auf. » Eine Menge Kinder verlieben sich in Erwachsene. Das ist nichts Sexuelles, sondern sie wollen sie nur beeindrucken oder zum Lachen bringen.«
» Ich kann dir immer noch nicht folgen.«
» Sie kommen in ein gewisses Alter und können dann ihre Eltern absolut nicht mehr cool finden. Manche von den Kids, nicht alle, übertragen ihre Gefühle auf einen anderen Erwachsenen. Das ist absolut natürlich. Sie suchen nur jemanden, zu dem sie aufblicken können, und in dieser Phase ihres Lebens sind das ganz bestimmt nicht die Eltern.«
» Also hat sie zu dir aufgeblickt?«
» So kam es mir vor«, sagte Sara, und er hörte Traurigkeit in ihrer Stimme.
» Du meinst also, sie hätte es dir erzählt, wenn etwas gewesen wäre?«
» Wer weiß?«, erwiderte Sara. » Die Kinder verändern sich,
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