vergissdeinnicht
ich mich fühlte – ein bisschen dämlich und verschlagen. Als ich wieder ins Zimmer ging, lag Ethan im Bett und schlief. Er trug meinen Pyjama. Ich beugte mich über ihn und hörte auf seinen Atem. Er atmete schwer. Plötzlich öffnete er die Augen, was mich zu Tode erschreckte. Er flüsterte: »Wach auf, Schlafmütze«, und nahm meine Hand.
Und dann wachte ich auf. Ich fühlte mich ein bisschen komisch. Fast friedlich. Heiter und im Reinen. Ich erinnerte mich erst später wieder an den Traum, nachdem Ethan hier gewesenwar. Davor hatte ich mich nur gefühlt, als hätte ich so richtig gut geschlafen und wäre bereit, den Tag anzugehen, was auch immer er bringen mochte. Auch wenn ich genau wusste, dass er nur drei ordentliche Mahlzeiten, einen geheimnisvollen Kidnapper und nicht sehr viel Sinn bringen würde.
Als Ethan nach dem Mittagessen reinkam, saß ich am Tisch und starrte in die Luft. Meine Gabel schob ich auf dem Teller hin und her. Er hockte sich auf die Bettkante, was offenbar zu einer Angewohnheit wurde. Er sagte nichts, schob nur seine Hände unter die Oberschenkel, wie um sie warm zu halten, und sah mich erwartungsvoll an. Ich hatte tatsächlich etwas zu sagen.
»Woher weißt du, was ich gerne esse?«
Ethan sagte nichts.
»Im Ernst, wie kommt’s, dass alles, was du für mich kochst oder mir bringst, etwas ist, das ich gerne mag?«
Er hob die Schultern.
»Ich meine, du sollst nicht denken, ich wäre undankbar oder so was, im Gegenteil. Ich finde nur, dass es irgendwie komisch ist. Man sollte meinen, dass du ein- oder zweimal danebenliegen müsstest. Aber es gab noch nie Fisch, oder Brokkoli, oder Nüsse, oder Rosenkohl, wo wir schon dabei sind …«
»Grace, niemand mag Rosenkohl.«
»Ha. Guter Punkt. Trotzdem, du weißt, was ich meine.«
»Was willst du von mir hören? Dass ich dir monatelang heimlich nachspioniert und fein säuberlich deine Essensgewohnheiten notiert habe?« Er machte sich über mich lustig, und das gefiel mir nicht.
»Nein, ich will nur, dass du mir die Wahrheit sagst. Und es wäre nett, wenn du versuchen könntest, dabei nicht so sarkastisch zu sein.«
»Wir mögen dieselben Sachen, Grace. Ist dir das nicht aufgefallen?«
»Äh … nein. Irgendwie nicht.« Ich seufzte. »Wie auch immer. Es ist eh egal, oder? Nichts davon ist wichtig.«
»Sei nicht so. Es ist alles wichtig. Alles . Wann verstehst du das endlich?«
Jetzt ärgerte ich mich aber so langsam wirklich. Ja, geheimnisvoll kann sexy sein, aber genauso gut auch total nervig.
»Würdest du bitte gehen? Ich muss noch ein paar Dinge erledigen.«
»Wie du willst, Grace.« Meine Unhöflichkeit schien ihn nicht zu stören. Er sammelte nur mein Geschirr ein und ging ohne ein weiteres Wort.
Nachdem Ethan weg war, dachte ich über unser Gespräch nach. Mir ist etwas an seiner Art zu sprechen aufgefallen. Er sagt meinen Namen sehr oft. Ich finde das ein bisschen komisch. Ich meine, es ist normal, ab und zu den Namen von jemandem zu sagen, aber immer und immer wieder ist irgendwie unheimlich. Ich frage mich, warum er das macht, oder ob ihm das überhaupt auffällt. Ich habe den leisen Verdacht, dass er vielleicht versucht, mich daran zu erinnern, wer ich bin. Falls ich es vergesse in diesem seltsamen weißen Raum.
Dad sagte meinen Namen auch immer oft. Er mochte wohl den Klang. Manchmal nannte er mich Graciemaus. Davon zuckte ich jedes Mal zusammen, aber ich ließ es ihm durchgehen, weil Dad eben einfach Dad war. Ich glaube, er hat damit aufgehört, als ich in die Mittelstufe kam. Es fiel mir gar nicht so richtig auf. Er muss es wohl nach und nach zurückgefahren haben – ein kleines Zugeständnis an den Umstand, dass sein kleines Mädchen groß wurde. Ich würde alles geben, um es ihn noch einmal sagen zu hören. Oder um ihn irgendetwas sagen zu hören. Oder um ihn nur zu sehen, wie er in seinem abgenutzten alten Ledersessel sitzt und über dem Kreuzworträtsel brütet.
Ich würde alles geben.
Tag 21
Gestern konnte ich so ziemlich knicken, nachdem ich erst mal ganz rührselig geworden war. Ich heulte und heulte und heulte. Ethan kam irgendwann rein. Glaub ich jedenfalls. Alles war ziemlich verschwommen und vernebelt, aber ich glaube, er saß neben mir und hatte eine Hand auf meiner Schulter, während ich schluchzend im Bett lag. Oder hab ich das geträumt? Ich kann mich nicht erinnern. Hmmm. Realitätsverlust = nicht gut.
* * *
Zwei Tage, nachdem ich mich mit Sal wieder versöhnt hatte, traf ich Nat. Ich hatte ihm
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