Vergissmichnicht
immer verlassen und vergessen. Sie hat es gehasst und dafür hatte sie gute Gründe.« Unversehens waren seine Worte laut und heftig geworden und hatten an Schärfe gewonnen. Plötzlich war er wieder Mitte 20 und traf am Strand von Deauville ein verzweifeltes, zartes und seelisch zutiefst verletztes junges Mädchen. Sie hatte von Anfang an seine Beschützerinstinkte geweckt, wie sie da verloren am Strand saß und ihre Füße im Sand vergrub. Als müsse sie sich ganz tief in den Sand eingraben, um nicht davonzufliegen, als müsse sie sich tief mit der Erde verwurzeln, um zumindest ein bisschen Halt zu gewinnen.
Er hatte hart um sie und ihre Gunst kämpfen müssen. Zuerst hatte sie ihn ignoriert, schien sogar Angst vor ihm zu haben. Doch er hatte nicht aufgegeben. Er, der eigentlich nur ein Wochenende in Deauville hatte bleiben wollen, blieb drei Wochen, nur, um in ihrer Nähe zu sein. Er sagte wichtige Treffen in Paris ab und verärgerte bedeutende Geschäftspartner. Aber er konnte nicht anders. Er hatte sein Herz an jenes traurige junge Mädchen verloren. Und irgendwann geschah das Unfassbare: Sie erwiderte sein Lächeln. Zögernd und verhalten huschte es über ihr Gesicht. Und Charles, vom richtigen Instinkt geleitet, wusste, dass er dieses Lächeln nicht zum Anlass nehmen durfte, sie anzusprechen und ging weiter. Stattdessen sprach sie ihn beim nächsten Mal an, als sie sich wieder begegneten. An der Stelle, an der sie sich immer trafen. Sie saß auf einem großen Felsbrocken, den das Meer weich und geschmeidig geschliffen hatte, er spazierte an ihr vorbei, den Strand entlang. Ihre Worte klangen ihm noch heute im Ohr, schön und melodiös, untermalt von der Melodie des Meeres. »Sie gehen oft hier spazieren«, hatte sie gesagt.
»Ja«, gab er zur Antwort. »Ja, es ist schön hier.« Er hatte sich neben sie gesetzt und sie hatten gemeinsam aufs Meer hinausgeblickt. Schweigend zunächst, doch dann entwickelte sich ein Gespräch, zart wie ein Seidenfaden, der sich zwischen ihnen hin- und herspann. Mit der Zeit wurden es immer mehr Seidenfäden, fast schon ein Seidenteppich, ein Gewebe aus Sehnsüchten, Hoffnungen, Träumen und auch aus Ängsten. Und dann hatte sie ihm irgendwann alles erzählt. Stockend und unter bitteren Tränen. Er hatte sie gehalten, als alles aus ihr herausbrach, aller Schmerz, alle Wut, aller Ekel, alle Selbstvorwürfe. Später liebten sie sich. Nicht an jenem Felsen am Strand, sondern in ihrem Hotelzimmer. Er erinnerte sich noch an die Angst, an die entsetzliche Angst, die er gehabt hatte. Die Angst, ihr wehzutun. Das Bewusstsein um das, was ihr widerfahren war, lähmte ihn beinahe, er hatte Angst, sie zu berühren, wagte nicht, sich seiner Lust hinzugeben, aus Furcht, sie könne erschrecken, aus Angst, sie könne denken, er wäre einer von ihnen .
Umso mehr staunte er über ihre wilde Leidenschaft, ihre Hingabe und erst viel später begriff er, dass sie ausgehungert nach Liebe und Zuwendung gewesen war. Über 30 Jahre war das jetzt her und was so aufregend und zärtlich begonnen hatte, war zu einer leeren Blase geworden. Er hatte sie verloren, das wusste er schon lange. Verloren, an den Albtraum ihrer Vergangenheit. Es hatte lange gedauert, bis sie starb, aber irgendwann setzte der Tod, der innere Tod, doch ein. Es war wie eine langwierige Seuche, die letztendlich über sie gesiegt hatte. Marlene war innerlich tot. Schon lange. Und das brach ihm das Herz.
»Nun ja, leider ist das nicht alles«, sagte der ältere Polizist.
»Wie?« Charles schreckte aus seinen Gedanken.
»Wir müssen Ihnen leider sagen, dass … nun ja, Ihre Schwiegermutter wurde ermordet«, stammelte der Semmelblonde und seine Ohren verfärbten sich puterrot.
»Ermordet«, wiederholte Charles tonlos. »Ermordet. Aber wie …«
»Sie wurde mit durchgeschnittener Kehle am Überlinger Bodenseeufer aufgefunden«, ergriff nun Dupont das Wort. »Es tut mir sehr leid.«
In Charles’ Kopf drehte sich alles. Noch ein Mord. Er vermutete, nein, er wusste , dass der Mord an seiner Schwiegermutter mit den Ereignissen von damals im Zusammenhang stehen musste. Es konnte nicht anders sein, einen solchen Zufall konnte es gar nicht geben. Und jetzt war Marlene verschwunden. Charles spürte, wie sich ein eisernes Band um seinen Schädel legte. Sein Magen krampfte sich zusammen. Sie war in Gefahr, schon wieder, und er konnte sie nicht beschützen. Dabei hatte er es doch versprochen, versprochen, versprochen …«
Als Charles den Kopf
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