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Vergissmichnicht

Vergissmichnicht

Titel: Vergissmichnicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eva-Maria Bast
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schmale Lichtschein durch die sich öffnende Tür fiel, hatte sie jedes Mal angefangen zu weinen, ein Weinen, das auch dann lange nicht verstummte, wenn sie wieder ganz alleine war. Das Weinen half ihr, die enorme Spannung abzubauen, unter der sie stand, wenn der Gefängniswärter ihr schweigend Gesellschaft leistete. Die Tränen spülten die Angst und den Schmerz aus ihr heraus, halfen ihr, nicht wahnsinnig zu werden. Damals hatte sie kaum weinen können. Bis auf das eine Mal, als sie sich Charles anvertraut hatte. Davor und danach hatte es keine Tränen gegeben. Aber sie waren trotzdem da gewesen. Sie hatten sich in ihrem Inneren zu einem riesengroßen Teich angesammelt. Und weil sie sich immer so mutterseelenallein fühlte, seit es geschehen war, weil sie stets das Gefühl hatte, sie müsse emotional einfrieren, um den Schmerz aushalten zu können, waren die Tränen mit den Jahren zu einem riesengroßen Eisklotz geworden, der ihre Seele und ihr Wesen bestimmte. Doch in den letzten Wochen hatte der Eisklotz zu schmelzen begonnen, schon vor ihrer Gefangenschaft. Sie wusste nicht, woher der Funke der Sehnsucht nach der Heimat plötzlich gekommen war, aber sie wusste, dass er in ihrem Inneren ein wahres Feuer entfacht hatte, das das Eis nun Stück für Stück schmolz.
    In ihrem Gefängnis bekam Marlene nun jeden Tag trockenes Brot und Wasser. Auf die Toilette durfte sie nicht. Sie lag in ihren Exkrementen. Am Anfang war ihr das entsetzlich peinlich gewesen und sie hatte lange gegen den Drang zu urinieren angekämpft, mittlerweile aber war es ihr egal. Marlene befand sich in einem halbwachen Zustand, zu schwach, um sich zu wehren. Und so konnten die Gespenster der Vergangenheit, die sie bisher in dem Eisklotz ihrer gefrorenen Tränen gefangen gehalten hatte, auch haltlos über sie herfallen, sie war ihnen hilflos ausgeliefert. Schluchzend erlebte sie alle Schrecken erneut. Aber auch die schönen Momente. Sie war wieder jung und lebensfroh, süße siebzehn, und bis über beide Ohren verliebt. Carlo hieß er und er spielte so wunderschön Violine. So hatte sie ihn kennengelernt, im Badgarten an der Überlinger Uferpromenade. Er hatte an einem der dicken, alten Bäume gelehnt und mit geschlossenen Augen gespielt. Chopin. Ihren Lieblingskomponisten. Der Bogen flog nur so über die Saiten und Marlene hatte sich, unfähig, den Blick von ihm zu wenden, ins Gras gesetzt und ihm zugehört. Als er fertig war, hatte er sie verschmitzt angelächelt. »Hallo«, hatte er gesagt und wie die junge Marlene auf der Wiese musste auch die gefangene Marlene auf dem feuchten, kalten Kellerboden in der Erinnerung an jenes ›Hallo‹ lächeln. Es war ein ›Hallo‹, das alles ändern sollte. Was damit begann, war zunächst wunderschön und dann unsagbar tragisch.
    Carlo hatte sie nach ihrem Namen gefragt und sie hatten gelacht, weil ihrer beider Namen mit C begannen. Was nicht oft vorkam. Marlene hatte damals noch auf ihren ersten Vornamen, Christin, gehört. Marlene nannte sie sich erst später, als alles vorbei war und sie den Vornamen mit dem C nicht mehr ertragen konnte, weil er sie zu sehr an ihn erinnerte. Wie sie alles an ihn erinnerte.
    Er hatte sie auf ein Eis eingeladen und sie waren am Ufer entlanggeschlendert. Den ganzen Tag hatten sie zusammen verbracht und am Abend hatte Carlo sie geküsst. Wunderschön war das gewesen.
    Marlene auf dem Kellerboden fühlte, wie sie durch die Erinnerungen, die sie nun, nach all den Jahrzehnten, endlich zuließ, von einer Welle der Empfindungen überschwemmt wurde. So intensiv hatte sie seit damals nicht mehr gefühlt. Seit sie in seinen Armen gelegen hatte. Sie gab sich den Erinnerungen hin und ein gnädiger Geist blendete alles Schmerzhafte aus. Verschonte sie für diese süßen Minuten von all den Schrecken, die danach gekommen waren. Marlene, die ihren geschwächten Körper kaum noch wahrnahm, spürte ein süßes Ziehen zwischen den Beinen. Mit letzter Kraft schob sie die Hand zwischen ihre Schenkel und berührte sich dort, wo er sie damals berührt hatte. Vor über 30 Jahren. In einem anderen Leben.

Neunzehntes Kapitel
    Konstanz
    »Aber ich war das nicht«, keuchte Jolanda Noack, als Monja Grundel sie in Handschellen in den Vernehmungsraum führte. »Ich schwörrre.«
    »Ach ja?«, brummte die resolute Polizistin. »Da gibt es aber verdammt viele Indizien, die das Gegenteil sagen.«
    »Was denn für Indizien?«, fragte Jolanda und versuchte, sich aus den Handschellen zu

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