Vergissmichnicht
musste sie sich dann und wann derbe Beleidigungen anhören, die sie wirklich verletzten. Denn mit grausamer Intuition fanden die Tatverdächtigen die einzige Wunde der Beamtin: ihre Unattraktivität und ihre Unbeliebtheit. »Was willst du mir denn sagen, du olle Ziege, dich fasst doch kein Mann mit der Kneifzange an«, hatte eine Hure ihr einmal ins Gesicht geschleudert. Die junge Frau musste sich danach wegen Beamtenbeleidigung verantworten, aber das half Monja Grundel auch nicht. Der Stachel saß tief und tat weh und irgendwie hatte sie auch das Gefühl, dass der Richter und die Staatsanwältin sie mitleidig ansahen, als sie den Vorfall im Prozess gegen die Hure, der vorgeworfen wurde, eine Kollegin bestohlen zu haben, wiedergeben musste. »Erzählen Sie mir jetzt Ihre Geschichte?«, fragte sie Didier.
»Ja«, sagte Charles. »Wissen gegen Wissen. So haben wir es vereinbart.« Er unterbrach sich kurz, zog ein weißes Stofftaschentuch aus der Hemdtasche und tupfte sich die Schweißtropfen von der Stirn.
»Meine Frau hatte im Sommer 1980 einen Freund. Er war Gastmusiker hier in Überlingen. Sein Name war Carlo Bader.«
Monja Grundel atmete scharf ein.
»Die beiden waren wirklich verliebt ineinander. Aber beide waren liiert. Der Freund meiner Frau war sehr jähzornig. Er hatte meine Frau schon öfter geschlagen, vor allem, wenn er unter Alkoholeinfluss stand. Das war einer der Gründe, warum ihr Herz offen für den jungen, charmanten Carlo Bader war und sie sich von ihrem Freund trennen wollte. Bevor sie es ihm aber sagen konnte, hat der Freund meiner Frau sie mit Carlo Bader sozusagen in flagranti erwischt. Sagt man so? Sie verstehen, was ich meine?« Er blickte sie fragend an.
Monja Grundel errötete. Es war ihr peinlich, mit diesem Mann, der ungeahnte Saiten in ihr zum Klingen brachte, über Sex zu sprechen, wenn auch nur sehr andeutungsweise. Sie nickte hastig. »Wo … wo war das?«, fragte sie.
»Im Stadtgarten. Meine Frau sagte etwas von einer Höhle. Vor deren Eingang haben die beiden sich wohl geküsst. Und dann stand auf einmal er da. Er hat das Paar auseinandergerissen und wie wild auf Carlo eingedroschen, bis er am Boden lag. Und dann hat er ihm in die Nieren und in die Geschlechtsteile getreten, bis er sich nicht mehr rührte.«
»Oh Gott!« Monja war entsetzt. »Und das alles vor den Augen seiner Geliebten.« 30 Jahre arbeitete sie nun schon in ihrem Beruf und sie hatte sich eine harte Schale zugelegt. Aber derartige Schicksale machten sie immer noch betroffen. Zu betroffen vielleicht. Sie dachte sich immer in die Opfer hinein, fragte sich, wie sie sich fühlten. Das zeigte sie freilich nie, Gefühle ließ sie eigentlich nur dann nach draußen, wenn sie Täter vor sich hatte. Und dann war es Wut, was sie herausließ. »Das muss schrecklich sein. Eben noch glücklich in den Armen des Geliebten und im nächsten Moment zusehen müssen, wie er zu Tode getrampelt wird«, murmelte sie.
»Es kommt noch schlimmer. Leider …«, deutete Didier an.
»Warten Sie«, unterbrach ihn Monja Grundel und hob abwehrend die Hand. »Sie müssen mir natürlich auch noch den Rest erzählen, aber das hat Zeit. Alles, was Sie mir über diesen Mann berichtet haben, reicht aus, um klarzumachen, dass mein Kollege in großer Gefahr schweben könnte. Wir müssen ihn suchen. Sofort. Und wir fangen bei Gruber an. Ich erinnere mich an ein Verhör, bei dem Gruber ganz komisch reagierte, als wir ihn mit dem Namen Carlo Bader konfrontierten.«
»Einverstanden«, sagte Charles. »Kann ich mitkommen?«
Monja schüttelte den Kopf. »Das ist ein Einsatz und zu gefährlich«, erklärte sie. »Ich werde auch nicht alleine gehen, sondern ein oder zwei Kollegen aus Konstanz anfordern.«
»Verstehe. Aber ich bin ein freier Mann. Ich könnte ja dort klingeln und einen Tick schneller sein als Sie.«
»Das kann ich nicht zulassen, das ist zu riskant«, wehrte Monja, die sich stets streng an die Dienstvorschriften zu halten pflegte, ab. Doch dann spürte sie Charles bittenden Blick auf sich und es ehrte sie, dass er sich ihren Segen erbat. Schließlich war die Adresse der Grubers leicht herauszufinden. Allein wollte sie ihn nicht gehen lassen. Und sie wusste, dass es sie ihren Job kosten konnte, was sie jetzt tat. Aber irgendwie hatte sie das Gefühl, dass es richtig war. Deshalb sagte sie: »Also gut, kommen Sie mit. Die Konstanzer Kollegen fordere ich von unterwegs an.«
Dreißigstes Kapitel
Konstanz
Ole Strobehn schlug die Augen auf
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