Verheißenes Land
eingeritzt war, sprach ein stilles Gebet für die Verstorbene und ihre eigenen Kinder. Denn auf der Querlatte standen schlicht und ergreifend ein Name, die Daten eines allzu kurzen Lebens und die Todesursache:
Mary Jensen, 1844–1848, gest. an Fieber.
»Allmächtiger, die Kleine ist gerade vier Jahre alt gewesen!«, sagte Éanna betroffen.
»Gebe Gott, dass es uns erspart bleibt, jemanden von unserem Zug auf dem Trail begraben zu müssen«, murmelte Emily und schlug ein Kreuz.
Wie unwahrscheinlich es war, den Trail durchzustehen, ohne eine ähnliche persönliche Tragödie zu erleiden, zeigte sich in den nächsten Tagen. Denn je weiter sie nach Westen kamen, desto öfter stießen sie auf Gräber. An manchen Stellen fanden sich sogar mehrere Grabhügel nebeneinander. Die Toten, die auf solchen Gräberfeldern bestattet waren, waren meist Opfer der Cholera geworden. Und immer seltener trugen die Gräber und Kreuze noch die Namen und Lebensdaten. Vielmehr zeugten sie, je weiter der Trail in den Westen führte, immer mehr von dem Bestreben, die Gestorbenen eilig der Erde zu übergeben und so bald als möglich weiterzuziehen. Schnell wurden die Gräber zu einem grimmig vertrauten Anblick, der kaum noch jemanden dazu brachte, vom Trail abzuweichen und einen Blick auf die letzte Ruhestätte eines unbekannten Overlanders zu werfen.
Die Reisenden gewöhnten sich an den Gedanken, dass scheinbar kein Treck sein Ziel ohne Opfer erreichte. So kroch der Wagenzug allmählich westwärts und gelangte schließlich nach Alcove Spring. Das Fleckchen war ein beliebter Lagerplatz für die Trecks, denn hier entsprang eine Quelle mit köstlich klarem Wasser, das von einer zehn Fuß hohen Felsplatte herabfloss und sich in einer tiefen Mulde zu einem kleinen Teich sammelte. Auch Éannas Zug machte hier Rast und nutzte die Gelegenheit, das Vieh ausgiebig zu tränken, Körper und Kleidung einmal ordentlich zu waschen und die Wasservorräte aufzufüllen. Die Overlander genossen die allzu kurze Atempause, denn sie wussten, dass gleich hinter Alcove Spring die erste große Herausforderung auf sie wartete. Sie erreichten nun nämlich den Big Blue River, einen gut sechzig Fuß breiten Fluss, der zu dieser Jahreszeit noch viel Wasser mit sich führte. Es galt, alle Tiere, Wagen, Vorräte, Gepäckstücke und natürlich alle Treckteilnehmer heil über den Fluss zu bringen.
In schweißtreibender Arbeit fällten die Männer Bäume und banden die Stämme zu Flößen zusammen, auf denen die schweren Wagen dann nacheinander über den Fluss gebracht werden sollten. Die Frauen bemühten sich unterdessen, die Ausrüstung in und an den Wagen zu verstauen und zu sichern. Erst nach mehreren Stunden schwerer Anstrengung konnten sie die eigentliche Aufgabe in Angriff nehmen und begannen mit der Überführung der Wagen. Diese erwies sich als so schwierig wie erwartet. Mehr als einmal drohte ein Wagen von den schwankenden Flößen in den Fluss zu stürzen und die Männer mussten alle Kraft aufwenden, um ein solches Unglück zu verhindern.
Es war ihre erste Flussüberquerung, doch sie war bei Weitem nicht die gefährlichste, die sie auf ihrem langen Weg gen Westen zu meistern hatten. Aber die Unerfahrenheit der Männer erschwerte die Arbeit und spiegelte sich in dem allgemeinen Chaos wider, das bald am Ufer und auf dem Big Blue River herrschte.
»Das pausenlose Gefluche und Geschrei in allen Sprachen der Welt hätte vermutlich auch den größten Stoiker der Christenheit in den Wahnsinn getrieben«, bemerkte Patrick hinterher treffend. Er war schweißüberströmt und sichtlich erschöpft von der Anstrengung, denn die Wagen der Seligmanns mit ihren Bäumen waren auf den Flößen noch schwerer unter Kontrolle zu halten gewesen als die der anderen Reisenden. »Und ich muss gestehen, auch ich habe meinen Teil dazu beigetragen!«
Doch trotz aller Mühen waren sie am Ende dieses aufregenden und besonders beschwerlichen Tages dankbar und zufrieden, denn das Glück war ihnen hold geblieben und niemandem ging bei der Überquerung des Big Blue River etwas verloren.
Zwei Tage später jedoch traf dann das erste Unglück den Wagenzug, als sie den Little Blue River erreichten und ihm hinein in das sich rasch weitende, offene Land folgten, das die Siedler Nebraska nannten und wo Wälder bald nur noch eine sehnsuchtsvolle Erinnerung waren. Hier bekamen die Overlander einen ersten Eindruck von der endlosen Weite des trockenen Graslandes, das sich unter dem hohen Himmel bis an
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