Verheißung des Glücks
fürchtete, das Zerwürfnis zwischen Mutter und Sohn könne noch schlimmer werden, als es ohnehin schon war. Und schuld daran war sie, weil sie Lincoln zu diesem Besuch überredet hatte.
Sie wollte gerade sagen, es sei wohl besser, wieder zu gehen, da begann Eleanor mit leiser Stimme zu sprechen: »Ich habe nie aufgehört, dich zu lieben, Lincoln. Wenn du das dachtest, hast du dich getäuscht.«
Er fuhr herum. »Was hätte ich denn sonst glauben sollen? Du bist nicht mit mir weggezogen. Nein, du hast mich einfach hergegeben! Du hast mich verstoßen — aus deinem Haus und aus deiner Nähe!«
»Ich hatte keine andere Wahl.«
»Du hättest mit mir kommen können.«
»Nein, das konnte ich nicht.«
»Warum?«
»Das ... das kann ich dir nicht sagen.«
»Warum?«
»Es gab ein Versprechen, das mich band.«
»Was für ein bodenloser Unsinn! Großer Gott, ich hätte wissen müssen, dass ich von dir niemals eine vernünftige Antwort bekommen würde.«
Lincoln machte einen Schritt zur Tür, doch Eleanor schrie: »Warte! Setz dich hin. Es ist Zeit, dass du endlich alles erfährst.«
Er blieb stehen, setzte sich aber nicht. Seine Züge waren so voll Schmerz und Wut, dass Eleanor zur Seite blicken musste, um fortfahren zu können.
»Die MacFearsons trugen dich damals ins Haus. Du warst bewusstlos und sie erzählten mir, was geschehen war. Sie sagten, für sie sei die Sache damit erledigt, und ich hatte keinen Grund, daran zu zweifeln. Ich holte den Arzt. Du hattest etliche Knochenbrüche, einige tiefe Wunden und zahllose Blutergüsse. Dein linkes Ohr hatte einen so schweren Schlag abbekommen, dass du eine Zeit lang darauf fast taub warst.«
»Das alles ist mir nicht neu. Aber nun weiß ich auch, dass die MacFearsons mich nach der ersten großen Schlägerei nach Hause trugen. Mir fehlte nämlich die Erinnerung daran, wie ich damals hierher zurück kam.«
»Weißt du auch noch, dass du mir damals nicht gehorcht hast? Ich bat dich, nicht mehr zu den MacFearsons zu gehen, doch du hast dich bei jeder Gelegenheit davongemacht und sie gesucht. Es half noch nicht einmal, dein Zimmer abzuschließen. Ich wusste nicht mehr, was ich mit dir tun sollte.«
»Und deshalb schicktest du mich weg«, sagte Lincoln.
»Nein! Du warst im Begriff, dich umzubringen. Jedes Mal, wenn du nach Hause kamst, warst du noch schlimmer zugerichtet als zuvor. Und ich schaffte es nicht, den fürchterlichen Prügeleien ein Ende zu setzen. Ich erreichte nichts — weder auf der einen noch auf der anderen Seite. Sicher, das Fieber war für dein unvernünftiges Benehmen verantwortlich, aber ...«
»Welches Fieber?«
»Einige deiner Wunden entzündeten sich. Aber am schlimmsten war dein Ohr. Schon am dritten Tag nach der ersten Prügelei hattest du hohes Fieber. Der Arzt versuchte, es mit verschiedenen Medikamenten zu senken, doch sie wirkten nicht. Du hattest fürchterliche Schmerzen und kamst auch deshalb nicht zur Ruhe. Die Schmerzmittel, die der Arzt dir gab, ließen dich glauben, es ginge dir gut genug, um gleich wieder aufzustehen. Aber du warst von all den Medikamenten halb betäubt, beinahe in einer Art Delirium.«
Melissa sah Eleanor mit großen Augen an. Fieber. Es gab also eine ganz einfache Erklärung für Lincolns unkontrolliertes Verhalten und niemand war darauf gekommen.
»Er benahm sich, als sei er verrückt?«, fragte sie.
»Das Wort gefällt mir nicht«, sagte Eleanor und zog eine gequälte Grimasse.
»Ich mag es auch nicht. Aber gewisse Leute glauben, Lincoln sei damals tatsächlich verrückt gewesen. Lag es denn an dem Fieber, dass er sich gebärdete wie ein Besessener?«
»Es war das Fieber und es waren die vielen Medikamente, die ihm kaum halfen und die er gar nicht hätte bekommen sollen. Es fehlte nicht viel, und ich wäre dem Arzt an die Gurgel gegangen, als ich hörte, dass er meinem Jungen irgendwelche neuartigen Mixturen gab, deren Wirkungsweise noch gar nicht erprobt war. Er benutzte mein Kind für seine Versuche. Das Fieber ließ Lincoln schließlich in einen ohnmachtartigen Zustand fallen. Anfangs ängstigte ich mich deswegen halb zu Tode. Doch irgendwann war ich erleichtert, denn während er still in seinem Bett lag, konnten seine Wunden in Ruhe heilen.«
»Sie gaben ihm also keine Schlafmittel?«
»Gütiger Himmel, nein! Das hatten wir ganz zu Anfang einmal erfolglos versucht. Lincoln hatte einfach viel zu starke Schmerzen und ich habe dem Arzt nicht erlaubt, die Dosis zu erhöhen.«
»Wie lange war Lincoln denn
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