Verheißung des Glücks
kehrte man erst im Morgengrauen wieder nach Hause zurück. Justin, der das Schlemmen und Feiern schon wieder leid war, unternahm morgens meist lange Ausritte in einem der Londoner Parks. Und Ian, der Melissa neuerdings wirklich auf Schritt und Tritt begleitete, war ohnehin kein Frühaufsteher.
Melissa hätte selbst auch noch gerne ein wenig länger geschlafen, doch es wollte ihr nicht gelingen. Gewöhnlich sprühte sie auch nach knapp bemessener Nachtruhe vor Energie, aber im Haus der Duchess verliefen die Vormittage während der Saison meist ereignislos und man verpasste im Grunde nichts, wenn man sich einen morgendlichen Schönheitsschlaf gönnte.
Zu Hause in Schottland gab es für Melissa zu jeder Tageszeit eine sinnvolle Beschäftigung. Hier in der Stadt war das anders. Selbst ein harmloser Morgenspaziergang stand völlig außer Frage. Ihr Onkel würde einen Tobsuchtsanfall bekommen, wenn er davon erfuhr. So blieben Melissa viele unausgefüllte Stunden, in denen sie ihren Gedanken nachhängen konnte. Leider bekam ihr das dieser Tage gar nicht gut.
Melissas Laune wechselte ständig zwischen Momenten extremer Hochstimmung und Zeiten, in denen sie der Verzweiflung nahe war. Stundenlang versank sie in Tagträume, in denen sie sich romantische Treffen mit Lincoln Burnett ausmalte, die natürlich immer glücklich endeten. Das war zwar keine unangenehme Art, sich die Zeit zu vertreiben, doch eigentlich wäre Melissa ein Lincoln aus Fleisch und Blut lieber gewesen. Richtig schlimm wurde es, wenn sie, anstatt Luftschlösser zu bauen, in endlose Grübeleien verfiel. Dann nagten die Zweifel so heftig an ihr, dass sie glaubte, verzagen zu müssen.
Diese innere Unruhe kostete Melissa einigen Schlaf. Es dauerte oft recht lange, bis ihr die Augen zufielen und eine sonderbare Anspannung ließ sie schon nach ein paar Stunden wieder erwachen. Dennoch gewannen im Laufe der Zeit die Zweifel die Oberhand und nahmen mehr Raum ein als die romantischen Träumereien.
Von einem Mann den Hof gemacht zu bekommen, hatte sich Melissa anders vorgestellt. Sicher war es nicht üblich, dass man seinen glühendsten Verehrer in etwas über einem Monat nur dreimal zu Gesicht bekam. Aber vielleicht durfte sie die ersten Wochen gar nicht mit einrechnen. Damals hatte Lincoln noch keine Möglichkeit gehabt, bis zu ihr vorzudringen. So hatte er zumindest behauptet. Die vier Tage auf dem Land, aus denen durch verschiedene Pannen eine ganze Woche geworden war, konnte sie allerdings zählen. Dennoch wollte Melissa optimistisch bleiben. Vielleicht hatte Lincoln die Einladung, die sie für ihn arrangiert hatte, ja doch nicht erhalten und war deshalb nicht erschienen. Das mochte eine große Enttäuschung gewesen sein, aber eine Tragödie war es noch lange nicht. Während der langen Woche auf dem Land sagte Melissa sich immer wieder, die vertane Zeit ließe sich sicher leicht aufholen, sobald sie wieder in London war.
Diese optimistische Sicht der Dinge erlaubte ihr wenigstens, die Landpartie zu genießen. Man vertrieb sich die Zeit mit Gesellschaftsspielen im Freien, einer Partie Golf, einem Picknick und Ausritten. Auch im Herrenhaus der Gastgeber war für jeden Geschmack etwas geboten. Es mangelte also nicht an Unterhaltung. Abgesehen davon gab Melissa sich die größte Mühe, zwei jungen Männern, die ihr vorgestellt wurden, keinerlei Hoffnungen zu machen. Sie wären unter anderen Umständen sicherlich ideale Heiratskandidaten gewesen, aber sie hatte sich ja bereits entschieden.
Nach der Rückkehr ins Stadthaus der Duchess gewannen Melissas Zweifel jedoch schnell die Oberhand. Wo war der Mann, der ein so großes Interesse an ihr bekundet hatte? Wenn ihm wirklich etwas an ihr lag, musste er doch zu Besuch kommen oder ihr wenigstens schreiben, was ihn davon abhielt.
Eigentlich hatte Melissa geglaubt, dass Lincoln gleich bei ihrer Ankunft vor der Tür stehen würde. Doch fünf Tage danach wartete sie immer noch auf ein Lebenszeichen von ihm. Langsam verlor sie jede Hoffnung, ihn jemals wiederzusehen. Dabei wusste sie nicht einmal, warum er plötzlich spurlos aus ihrem Leben verschwunden war. Obwohl sie tapfer dagegen ankämpfte, verfiel sie in eine immer trübseligere Stimmung.
»Ach, du bist noch immer da«, sagte Justin, als er mit der Reitgerte in der Hand ins Frühstückszimmer trat.
Es war beinahe Mittag. Sie musste stundenlang tief in Gedanken versunken auf dem Stuhl gesessen haben. Das Essen auf ihrem Teller war unberührt. Dieser Zustand
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