Verheißungsvolle Küsse
Besonders bei einer Frau wie ihr.
Ihr ganzes Leben hatte sie ungeschriebenen Gesetzen gehorcht, sie begriff sie instinktiv. Gleichgültig ob es tatsächlich auch seit längerem seine Absicht gewesen war, sie zu heiraten - nachdem er in einer kompromittierenden Situation ertappt worden war, hatte er genau denselben Gesetzen entsprechend reagiert und ihr den Schutz seines Namens gewährt. Und dann darauf bestanden, ihr eingeredet, dies wäre von Anfang an sein Wunsch gewesen. Ehre verlangte das eine, seine exzentrische Güte das andere.
Sie unterdrückte ein Schniefen. Sah durch die Kutsche zu Louis, der mit offenem Mund im Sitz einen unschönen Schläfer abgab. Er hatte getrunken - heute Morgen war er die Treppe heruntergestolpert und hatte ausgesehen wie der Tod: die Haut teigig und tiefe Ringe unter den Augen. Auf Thierrys besorgte Fragen hatte er nur einsilbig geantwortet und alle Angebote eines Frühstücks strikt abgelehnt, mit schmalen Lippen und zittrig.
Was Louis überhaupt nicht ähnlich sah. Normalerweise gierte er nach Aufmerksamkeit und raffte alles an sich, was geboten wurde.
Wenn sie raten sollte, würde sie sagen, dass ihn irgendetwas schwer erschüttert hatte. Sie konnte sich nicht vorstellen, was.
Marjorie saß neben ihr, aufgeregt, glücklich und erleichtert. Thierry hatte gegenüber Platz genommen, entspannt, scheinbar weniger besorgt, als es in den letzten Tagen den Anschein gehabt hatte. Marjories Zofe, Thierrys Kammerdiener und Louis’ Kumpan Villard folgten in einer weiteren Kutsche mit dem Gepäck; die Zofe, die sich um Helena gekümmert hatte, hatte sich erkältet und war zurückgeblieben.
Die St. Ives-Reisekutsche war pünktlich erschienen - es kam natürlich nicht in Frage, Sebastians Einladung nach Cambridgeshire auszuschlagen. Für sie war es eine unerwartete Herausforderung, ein plötzlicher und unerwarteter Richtungswechsel.
Sicher, geborgen und warm - die Kutsche bot jeden erdenklichen Luxus, alles Samt und Leder; die Fenster schlossen so gut, dass auch nicht der leiseste Luftzug eindringen konnte - und trotzdem war sie nicht bereit, sich einlullen zu lassen und gefügig zu werden. Einen Mann wie Sebastian Cynster zu heiraten, hatte nie einen Teil ihrer Pläne gebildet. Und trotzdem war sie jetzt hier, praktisch verlobt mit einem Mann, der mächtiger war als die meisten, die sie bis jetzt kannte. Diese Tatsache allein sprach Bände. Fabien und Sebastian waren sich, soweit sie das beurteilen konnte, ziemlich ähnlich - im Hinblick auf wahre Macht und die Fähigkeit, Dinge in Gang zu bringen.
Fabien war ein Meister, Sebastian ein Großmeister. Noch mehr.
Widrig wie sich das Schicksal nun einmal gebärdete, stellte dieser Punkt jetzt ein sehr starkes Argument dafür dar, seinen Antrag anzunehmen.
Wenn ja, dann wäre sie vor Fabien sicher.
Aber zu welchem Preis?
Das, sagte sie sich, als der imposante Einlass in Sicht kam, müsste sie als Erstes herausfinden.
Der schöne Blick auf Somersham Place, den Hauptsitz der Dukes von St. Ives, lenkte sie ab. Die Kutsche rumpelte durch die offenen Tore, dann ratterte sie eine gepflegte Auffahrt hinauf, die von Bäumen, kurzen Rasenstücken und Büschen gesäumt war. Anschließend bogen sie um eine Kurve und ließen die Bäume hinter sich - da stand das Haus vor ihnen, etwas schemenhaft im schwachen Licht des Wintertages.
Riesig, imposant, beeindruckend, und doch nicht kalt. Helena musterte es, versuchte die richtigen Attribute zu finden. Die Fassade aus Sandstein und alle Mauern, die sie sehen konnte, standen sicher seit einer Ewigkeit. Sie waren solide und durch die Patina im Lauf der Jahre freundlicher geworden, hatten sich der Landschaft angepasst, die um sie herum geschaffen worden war. Die weiten Rasenflächen, die Größe der Bäume, die vereinzelt darauf standen, die Art und Weise, wie der See, den sie hinter den Rasenflächen erspähte, sich so perfekt in die Aussicht einfügte, bezeugte, dass sowohl Haus als auch der Park gereift waren und eine wunderbare Harmonie erreicht hatten.
Helena war die abgezirkelt konstruierten, geometrisch genauen Gärten französischer Adelshäuser gewohnt und der hier herrschende Mangel an Formalität faszinierte sie. Trotz dieses Mangels war das Ergebnis eine Pracht, ein Palastgebilde - fraglos das Haus eines reichen und mächtigen Mannes. Aber da war noch mehr, noch etwas. Etwas Unerwartetes.
Das Haus sah einladend aus. Lebendig. Seltsam herzlich - als wäre die Steinfassade ein gütiger
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