Verheißungsvolle Küsse
Marjorie und Clara gingen an ihnen vorbei, als hätten sie nichts bemerkt. Thierry und Louis waren bereits im Billardzimmer verschwunden. Sie holte Luft, als müsse sie sich wappnen, und nickte schließlich: »Wenn das Euer Wunsch ist.«
Sebastian wünschte sich…sehr viele Dinge; aber jetzt nahm er ihre Hand und führte sie ins Arbeitszimmer.
Helena mühte sich ihre Anspannung, ihre Angst nicht zu zeigen - nicht vor ihm, sondern dass er sie dazu bringen könnte, etwas zu sagen, zu tun. Zu beichten. Er führte sie durch eine Tür, die ein Lakai aufriss, in sein Arbeitszimmer. Der große Schreibtisch war in Benutzung, den Stapeln von Papieren und Büchern darauf nach zu schließen - auch mit dem großen Lederstuhl dahinter und der Fülle von Dokumentenschachteln und Akten, die sich in den Regalen rings an den Wänden stapelten. Unerwarteterweise kam ihr der Raum angenehm, sogar gemütlich, vor. Breite Fenster mit Aussicht auf die Rasenflächen; nachdem es draußen bereits dunkelte, waren die Lampen angezündet, ihr goldener Schein fiel auf das polierte Holz, auf Samt und Leder.
Sie ging zu dem Feuer, das fröhlich im Kamin knisterte und die Kühle, die von draußen hereinsickerte, vertrieb. Gleichzeitig sah sie sich verstohlen um, suchte nach einem Schrank oder einer Vitrine - nach irgendeinem Platz, wo Fabiens Dolch versteckt sein könnte. Sie musste danach suchen, auch wenn sie an der Tatsache verzweifelte, Sebastian so tückisch zu hintergehen.
Vor dem Kamin streckte sie ihre Hände über die Flammen. Als er sich zu ihr gesellte, straffte sie die Schultern.
Er blieb neben ihr stehen, nahm ihre Hände in die seinen. Sah ihr ins Gesicht, in die Augen. Die seinen konnte sie nicht ergründen, war überzeugt, dass auch ihre nichts verrieten. Wie in Anerkennung ihrer gegenseitigen Schutzwälle hoben sich seine Mundwinkel zu einem ironischen, leicht schiefen Lächeln.
» Mignonne , nach den Ereignissen der gestrigen Nacht weißt du genau wie ich, dass wir bereits die ersten Schritte auf unserem gemeinsamen Weg getan haben. Was Entscheidungen angeht, haben wir sie jeweils getroffen - du deine und ich meine. Trotzdem besteht bei Menschen wie uns das Bedürfnis nach einem förmlichen Ja oder Nein - eine schlichte, klare Antwort auf eine schlichte, klare Frage.«
Forschend schaute er sie wieder an. Sie wandte sich nicht ab, wich seinem Blick nicht aus, sondern versuchte zu ergründen, welche Richtung er einschlug. Fragte sich, ob ihre innere Unsicherheit von ihm oder ihr selbst ausging.
Nun verzog sich sein Mund. Er sah hinunter, hob ihre beiden Hände, küsste die Linke und die Rechte.
»Wie auch immer«, - seine Stimme war tiefer geworden, hatten diesen Tonfall angenommen, den sie jetzt mit Intimität assoziierte - »ich möchte dich nicht bedrängen. Ich werde dir eine einfache Frage stellen, sobald du bereit bist, mir eine einfache Antwort zu geben.« Abermals musterte er sie aufmerksam. »Bis dahin solltest du wissen, dass ich hier bin und warte« - wieder zuckte sein Mund - »wenn auch nicht geduldig. Aber auf dich, mignonne … da kannst du sicher sein, werde ich ewig warten!«
Das klang wie ein Schwur. Scheinbar verriet ihr Gesicht, ihr Blick, ihre Überraschung - in seinem glühte ein selbstverachtendes Licht, so, als schüttle er den Kopf über seine Milde ihr gegenüber.
Und milde war er. Mehr als die meisten verstand sie, dass es sein natürlichster Impuls wäre, sie mit seinem Antrag zu bedrängen, bis sie sich geschlagen gäbe. Zuzugeben, dass sie bereits die Seine war und er nicht mehr lange betteln müsste.
Sie hatte mit der Forderung nach einer offiziellen Kapitulation gerechnet, hatte sich innerlich gewappnet, hatte sich, falls notwendig, Ausflüchte zurechtgelegt, wollte jede weibliche Tücke einsetzen, um eine solche Erklärung hinauszuzögern. Wenn sie nachgab, und ihn in dem Glauben ließ, er hätte triumphiert und könnte sich damit brüsten - am Ende öffentlich - dann würde der Schaden noch immer verschlimmert durch ihre Flucht.
Der Zorn, den sie damit heraufbeschwöre, wäre kaum mehr zu bändigen.
Sie hatte den Raum betreten, bereit, ihren Gefühlen jede Art von Gewalt anzutun, die nötig war, um ihre Ziele zu erreichen - Arieles Rettung und die Schonung von Sebastians Stolz. »Ich …« Was konnte sie angesichts solch eines Dilemmas sagen? Er wusste nichts von ihren Problemen; trotzdem hatte er gespürt, dass sie in Schwierigkeiten war und davon Abstand genommen, ihre Situation noch
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