Verhext
aufwallte. »Ich bin auch in einem kleinen Dorf aufgewachsen. Ich weiß, wie es für dich in Deepford gewesen sein muß.«
»Es hörte nie auf«, flüsterte Iphiginia. »Überall wurde ich beob-achtet. Niemand mochte Mama oder Papa wirklich. Weißt du, sie waren Künstler.«
»Ich weiß.«
»Meine Eltern sagten immer, ich sollte die unhöfliche Einmischung der anderen ignorieren, aber nachdem sie fort waren, konnte ich das nicht tun. Ich mußte den Lebensunterhalt für mich und meine Schwester verdienen. Und dann tauchte auch noch Amelia bei mir auf, ohne einen Pfennig und vollkommen allein auf der Welt.«
»Also mußtest du für euch drei sorgen.«
»Ja. Und um das zu tun, mußte ich mich all den kleinlichen Regeln der guten Leute von Deepford beugen.« Iphiginia blickte aus dem Fenster auf die Straße. »Der Gutsbesitzer Hampton und seine Frau gaben mir immer Verhaltensregeln mit auf den Weg. Mrs. Caler, die in dem Cottage neben meiner Akademie lebte, hielt mir endlose Vorträge darüber, wie tugendhaft sich eine Lehrerin junger Damen zu verhalten habe. Der Pfarrer und seine Frau lauerten nur darauf, daß ich endlich einen Fehler begehen und mich unstandesgemäß verhalten würde.«
Marcus streckte die Hand aus und zog sie zurück in seine Arme. »Ich verstehe dich.«
»Überall waren Augen. Ich mußte so vorsichtig sein. Wir alle drei brauchten die Einkünfte aus der Akademie. Und das Bestehen der Akademie hing von dem guten Willen der Hamptons, des Pfarrers und all der anderen Leute in Deepford ab, die die Regeln aufstellten, an die wir übrigen uns zu halten hatten.«
Marcus hielt sie fest und atmete den blumigen Duft der Seife ein, die sie zum Haarewaschen benutzte. In diesem Augenblick fühlte er sich ihr näher als je zuvor einem Menschen.
»Ich weiß, wie es ist, wenn man die Verantwortung für andere hat«, flüsterte er in ihr Haar. »Und was es heißt, sich den Regeln anderer Menschen beugen zu müssen.«
»Vor einem Jahr habe ich Deepford für immer verlassen. Ich habe nicht die Absicht, jemals dorthin zurückzukehren, es sei denn, um hin und wieder meine Schwester zu besuchen. Ich bin fest entschlossen, deinem Beispiel zu folgen, Marcus. Wenn ich schon Regeln brauche, dann werden es meine eigenen sein.«
Marcus strich ihr beruhigend über den Rücken. »Ich verstehe dich besser, als du glaubst, aber ich kann nicht zulassen, daß du weiterhin die Rolle meiner Mätresse spielst.«
»Warum nicht?«
Er suchte nach einem vernünftigen Argument. »Es ist zu gefährlich.«
»Nein, das ist es nicht.« Iphiginia hob ihren Kopf von seiner Schulter. »Wir wollen beide den Erpresser finden, und wir sind übereingekommen, daß uns das gemeinsam eher gelingen wird. Was wäre naheliegender, als mit unserer Maskerade fortzufahren?«
Er sah sie nachdenklich an. Er hatte gewußt, daß es nicht einfach werden würde, aber ihm war nicht klar gewesen, daß sich seine Gegenspielerin als derart widerspenstig erweisen würde. »Eins der Probleme, die du übersiehst, Iphiginia, ist die Tatsache, daß es, genau genommen, keine Maskerade mehr ist.«
Sie errötete. »Um Himmels willen, Marcus, wenn dich der Gedanke, mich zu lieben, derart beunruhigt, dann werden wir von derartigen Aktivitäten einfach Abstand nehmen.«
Iphiginia nicht mehr zu lieben, war wahrscheinlich ebenso einfach, wie ein Schiff zu bauen, mit dem er zum Mond fahren könnte, dachte Marcus. Er mußte sie einfach für seine Heiratspläne gewinnen.
Er hatte gelernt, daß es manchmal am besten war, auf Umwegen zum Ziel zu gelangen, wenn man einem scheinbar unlösbaren Problem gegenüberstand.
Er hatte noch etwas Zeit. Wieviel Zeit, wußte er nicht. Aber bisher war Iphiginia nicht aufgeflogen, und es bestand kein Grund zu der Annahme, daß jemand anders in naher Zukunft über die Wahrheit stolpern würde. Die gegenwärtige Situation konnte nicht ewig andauern, aber zumindest bestand keine unmittelbare Gefahr.
Sie wollte ihn immer noch. An dieses Wissen würde Marcus sich klammern. Er würde darüber nachdenken, es überprüfen, es analysieren. Und schließlich würde er einen Weg finden, um diese Schwäche auszunutzen und ihre Abwehr zu überwinden.
Die Tür der Bibliothek öffnete sich, und Amelia kam herein. »Iphiginia? Mr. Manwaring hat mich daran erinnert, daß wir -« Sie unterbrach sich und errötete, als sie ihre Cousine in Marcus’ Armen sah. »Oh, Verzeihung.«
»Schon gut«, sagte Marcus und blickte zu Iphiginia hinab. »Wir werden
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