Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)
ein kleines Mädchen.
Was würde sie jetzt darum geben, wieder ein kleines Mädchen zu sein. Sie fühlt sich den Medien schutzlos ausgeliefert und hat eine Heidenangst davor, was in den nächsten Tagen noch alles ausgegraben wird. Und vor den Konsequenzen. Für alle.
Aber wie groß ist das Risiko, dass sie so tief graben?
Trine aktiviert den Bildschirm vor sich. Massenhaft E-Mails, die ungelesenen schwarz hervorgehoben. Ihr Blick bleibt an einer E-Mail hängen, die vor nicht einmal zehn Minuten eingegangen ist. Unbekannter Absender, aber der Betreff erregt ihre Aufmerksamkeit.
9. Oktober
Zögernd klickt sie die Mail an. Und was dort steht, verschlägt ihr den Atem.
Ich weiß, was letztes Jahr am 9. Oktober passiert ist. Oder sollte ich lieber sagen, am Tag danach?
Fassen Sie dies als eine Warnung auf. Treten Sie zurück, sonst kommt alles ans Licht.
13
Das Funkgerät ist eingeschaltet, aber Bjarne Brogeland hört nicht hin. Sein Blick wandert über die Stadt, die an ihm vorüberzieht. Unter dem Auto ist das gedämpfte Summen der Reifen auf dem nassen Asphalt zu hören.
Vor einer Viertelstunde sind sie mit ihrer Morgenbesprechung fertig geworden. Die dringlichsten Aufgaben des Tages wurden festgelegt und unter Arild Gjerstads kundiger Regie verteilt: Eine ansehnliche Gruppe von Ermittlern unter der Leitung von Emil Hagen ist in Richtung Pflegeheim ausgerückt, um die Verhöre der Mitarbeiter fortzuführen, die tags zuvor dort Dienst hatten. Im Präsidium koordiniert Fredrik Stang die Arbeit und recherchiert die Hintergründe zu sämtlichen Angestellten des Grünerhjemmet, insbesondere zu denjenigen, die auf Erna Pedersens Station arbeiten. Parallel macht die Kriminaltechnik mit ihrer Arbeit weiter, sichert Fingerabdrücke und jagt sie durch die Datenbank. Bjarne selbst hat den Auftrag bekommen, den kleinen Jungen aufzusuchen, der Erna Pedersen gefunden hat, Ulrik Elvevold Sund, was er nur zu gerne übernommen hat, da die Femme fatale der Abteilung, Ella Sandland, ihn begleiten soll. Bjarne ist schon lange verschossen in sie, aber bislang ist keiner seiner Annäherungsversuche mit mehr als einem Schulterzucken beantwortet worden. Aber genau das, findet Bjarne, macht die Zusammenarbeit erst recht spannend.
Er sieht zu ihr hinüber. Das dezente Make-up, die straffen Wangen, das Kinn, die Lippen – sie sind trocken, wo sie doch sonst immer ganz weich und feucht wirken. Ihre Wimpern beschreiben einen perfekten Bogen. Sandland ist eine Sonne. Wo sie ist, ist es immer etwas wärmer.
»Also«, sagt er und atmet tief durch. »Was denkst du über den Fall?«
Sandland, die kerzengerade neben ihm sitzt und mit wachem Blick aus dem Fenster schaut, wendet sich ihm zu. »Tja, schwer zu sagen. Wer kommt auf so eine Idee? Ich meine – allein schon die Fantasie zu haben, einer alten Frau Stricknadeln in die Augen zu hämmern. Wie krank ist das eigentlich?«
Ihr westnorwegischer Dialekt schlägt wie immer eine ganz besondere Saite in ihm an. Sie schüttelt den Kopf, ohne dass ihre kurz geschnittenen, fast flachsblonden Haare sich bewegen.
»Irgendjemand muss sie zutiefst gehasst haben«, sagt er. »Glaubst du, es hat eine symbolische Bedeutung, dass er ausgerechnet eine Bibel benutzt hat, um ihr die Stricknadeln in die Augen zu schlagen?«
»Vielleicht war sie gläubig.«
»Oder es hat etwas mit ihren Augen zu tun«, schlägt Bjarne vor. »Vielleicht hat sie etwas gesehen . Augen haben ja an sich schon einen großen Symbolwert.«
Sandland nickt wortlos.
Bjarne blinkt, biegt rechts ab und parkt gegen die Fahrtrichtung in der Jens Bjelkes gate direkt vor dem Haus mit der Nummer 43. Das große, im Erdgeschoss mit Steinplatten verkleidete Gebäude ist gelb gestrichen, die Fensterrahmen sind weiß, die Tür ist blau.
Bjarne hat zuvor angerufen und ihr Kommen angekündigt, damit Martine Elvevold sich selbst und den Jungen auf das Gespräch vorbereiten kann. Als Sandland klingelt, werden sie sofort eingelassen und im ersten Stock von einer schlanken Frau empfangen. Sie wirkt blass und müde, als hätte sie schon eine ganze Weile nicht mehr richtig geschlafen. Ihre braunen, schulterlangen Haare sind ungekämmt.
»Kommen Sie herein«, sagt sie, nachdem sie die beiden per Handschlag begrüßt hat. Sie gehen ins Wohnzimmer, wo der Fernseher läuft: einer der Shrek-Filme, erkennt Bjarne. Vor dem Fernseher sitzt Ulrik zusammengesunken auf dem Boden. Der Junge hat die gleichen blonden, längeren Haare wie sein
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