Verleumdet: Ein Henning-Juul-Roman (German Edition)
nichts mehr zu sehen. Die Wände scheinen frisch gestrichen zu sein, außerdem sind einige Anbauten hinzugekommen, seit Henning das letzte Mal hier gewesen ist.
Er schlendert um die Schule herum. Selbst die Rückseite wirkt viel gepflegter, als er es in Erinnerung hat. Damals war alles abgenutzt und staubig. Jetzt wächst hier Rasen. Der Platz, auf dem sie damals Fußball gespielt haben, wirkt jetzt wie der Trainingsplatz einer ordentlichen Vereinsmannschaft. Daneben ist ein Beachvolleyballfeld. Es fühlt sich seltsam an, auf den Spuren der Vergangenheit zu wandeln, jetzt da alles ersetzt und verbessert worden ist. Henning versucht, sich die Schüler vorzustellen, die sich wegen was auch immer an Erna Pedersen gerächt haben. Was haben sie getan? Was ging ihnen dabei durch den Kopf?
Menschen sind unterschiedlich. Henning fragt sich, was er selbst getan hätte, wenn er auf Kriegsfuß mit einem seiner Lehrer gestanden hätte. Hätte er einen Ort gebraucht, an dem er diesen Hass pflegen und den niemand ihm nehmen konnte? Henning sieht sich um. Keiner der Schüler ist draußen. Die Sonne blitzt auf den Fensterscheiben, trotzdem erkennt er die Aktivität dahinter.
Am Ende des Geländes vor einem angrenzenden grauen Wohnkomplex steht ein halbes Dutzend Kletterbäume. Henning geht hinüber und sieht sie sich genauer an. Sie verzweigen sich in die Breite, verflechten sich miteinander. Er hält nach den dicksten Ästen Ausschau, wählt einen Baum aus und klettert ein Stück weit hinauf, findet aber weder Kerben oder Ritzen im Stamm. Er springt wieder hinunter und versucht es im nächsten Baum – mit dem gleichen Resultat.
Eine ältere Frau mit Rollator spaziert den Bürgersteig unter ihm entlang. Er lächelt ihr zu, bevor er in den nächsten Baum klettert, sich rittlings auf einen dicken Ast schiebt und sich zum Stamm zurückdreht.
Nein.
Nichts.
Trotzdem fühlt er sich dem Täter auf merkwürdige Art nahe. Auf jeden Fall kann er sich vorstellen, wie es sein muss, einen Ort wie diesen zu haben, einen Ort, an dem man einfach sitzen und fühlen und hassen kann. Das Bild der Schulklasse, das aus Erna Pedersens Zimmer entfernt worden ist, die Bruchstriche , von denen sie am Tag ihres Todes gesprochen hat – all das fühlt sich an, als habe jemand sie zutiefst verabscheut. Der Mord hat etwas mit ihrer Lehrertätigkeit zu tun, da ist Henning sich sicher.
Er klettert wieder nach unten und betritt die Schule, gerade als es klingelt. Ein kleiner Junge weist ihm den Weg zum Büro des Direktors, wo ihm eine freundliche Sekretärin ihre Hilfe anbietet, weil der Direktor nicht da ist.
»Ja, vielleicht können Sie mir wirklich helfen«, sagt er und lächelt die nette Frau mit den langen schwarzen Haaren an. »Gibt es an Ihrer Schule so etwas wie Jahrbücher?«
»Ja, natürlich. Wir haben 2005 damit angefangen.«
»Von den älteren Jahrgängen gibt es also keine Bücher? Wenn ich Sie bitten würde, ein Klassenfoto zu suchen, auf dem Erna Pedersen zu sehen ist, wäre das dann hoffnungslos?«
Das Lächeln der Sekretärin erstirbt. »Deshalb sind Sie hier.«
Die Nachricht von ihrem gewaltsamen Tod hat die Jessheimer Schule also bereits erreicht.
Er erklärt ihr, wer er ist und was er will. »Ich versuche, jemanden zu finden, der sie kannte, als sie hier gearbeitet hat. Gibt es denn noch Lehrer, die schon vor Pedersens Pensionierung 1993 hier unterrichteten?«
Die Sekretärin denkt einen Moment lang nach. »Wir sind ein recht junges Kollegium. Ich fürchte, ich muss Sie enttäuschen. Aber wenn Sie auf der Suche nach einem Bild von ihr sind, fragen Sie am besten einen ihrer ehemaligen Schüler. Wenn Sie denn einen finden.« Ein schmales Lächeln.
»Das war’s dann schon«, sagt Henning. »Danke für die Hilfe.«
40
Die Räder rattern über holprigen Asphalt. Bjarne sieht zu Ella Sandland hinüber, die vom Beifahrersitz aus dem Fenster starrt.
»Die Hilfspfleger im Grünerhjemmet«, sagt er unvermittelt. »Nielsen, Sund und Thorbjørnsen.«
»Was ist mit denen?«
»Erstens«, sagt Bjarne und streckt den Zeigefinger aus. »Wir wissen, dass Daniel Nielsen gelogen hat, als wir ihn fragten, was er gemacht hat, bevor wir gestern bei ihm waren. Er war nicht in Sveins Gym. Und wir wissen, dass er am Sonntag zur Tatzeit im Heim war, um irgendetwas abzuliefern. Keiner der Angestellten kennt das Opfer besser als er.« Er hält kurz inne und streckt einen zweiten Finger aus. »Zweitens: Wir wissen auch, dass Ole Christian Sund da war,
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