Verliebt bis unters Dach Roman
Sprichwort, aber sehr wahr.
Als Liesel an diesem Morgen in den Spiegel blickte, fand sie sich nicht sehr schön, sondern eher dumm. Daher saß heute eine andere Liesel hinter dem Empfang. Kein Make-up, das Haar zu einem ziemlich strengen Pferdeschwanz gebunden. Sie trug eine schlichte schwarze Hose, niedrige Absätze und eine einfache weiße Bluse. Sie hatte sogar überlegt, sich Marilyns Brille auszuleihen, die sie nur trug, wenn sie die Buchhaltung machte, aber davon wurde ihr schwindlig und die Sicht verschwommen.
Doch sie wirkte nun eher wie eine »kompetente Sekretärin« und nicht mehr wie eine unschuldige Sexbombe. Letzteres fand Liesel immer sehr beunruhigend.
Aber Lorraine, die unter dem Gewicht eines Wäschestapels hereinwankte, der gerade abgeliefert worden war, bemerkte den neuen Look nicht, nur Kashia, die das Silber putzte, sah zweimal hin.
»Was meinen Sie? Ich dachte, die Jeans und das T-Shirt von gestern geben dem Hotel ein falsches Image.«
»Ist sehr Lorraine«, meinte Kashia mit leichtem Spott, aber Liesel war sicher, dass der Spott eigentlich nicht ihr galt.
»Das verstehe ich als Kompliment«, grinste Liesel, obwohl sie genau wusste, dass es nicht so gemeint war. »Sie sehen heute wieder hinreißend aus.«
Kashia kniff misstrauisch die Augen zusammen und versuchte zu entscheiden, ob Liesel das ehrlich meinte oder spöttisch. Kashia würde sich dann rächen, indem sie Liesel die unglaublich glänzenden Haare im Schlaf abschnitt, aber das Mädchen wirkte ehrlich, und Kashia war genug falschen Leuten begegnet, um zu wissen, wann jemand die Wahrheit sagte.
»Okay. Danke«, sagte sie nach einem Moment recht mürrisch.
Eric, der Süße, merkte gar nicht, dass Liesel ihren Stil so stark verändert hatte. Für ihn war sie einfach Liesel, ein nettes Mädchen, eine neue Freundin, ob sie nun Hip-Jeans und ein knalliges T-Shirt trug oder wie eine Bibliothekarin aussah.
Marilyn aber war sichtlich erschrocken.
»Als was hast du dich denn heute verkleidet?«, fragte sie.
»Als respektables Mädchen.«
»Okay.«
»Und als Empfangsdame«, erklärte Liesel. »Ich will nicht, dass die Leute mich nach meinem Äußeren...«
»Das würdest du bloß schaffen, wenn du unsichtbar wärest«, erwiderte Marilyn trocken.
»Kleider machen Leute.«
»Ja, und ich muss jetzt die Betten machen. Bis später.«
»Nicht, wenn ich mich unsichtbar mache«, gab Liesel schlagfertig zurück.
Liesel sah vielleicht sehr kompetent aus, aber es gab am Empfang nur wenig zu tun.
Die Heathers und die Sedgewicks waren eine sanfte Einführung in die Hotelwelt gewesen. Am Tag nach deren Abreise war das Hotel leer, und dem Buchungsbuch zufolge, das in ein Museum gehörte, würde das so bleiben, bis Mr. Lockheart ankam. Danach gab es nur noch erschreckend sporadische Buchungen. Wie konnte ein Hotel existieren, das niemand kannte? Wie konnte man neue Gäste anziehen?
Marilyn nahm ihren Rechner heraus und stellte aus dem Nichts heraus ein Marketing-Budget auf. Sie setzte eine Anzeige in die Sonntagszeitungen und ins Internet.
Dann durchforstete sie mit Liesel sämtliche Zimmer nach Kitsch. Sie nahmen die Spitzendeckchen weg, die Klorollen-Hüllen, alles, was gehäkelt und gestrickt war, die Plastikblumen und die Bettüberwürfe, die allzu rosa waren, und stopften fröhlich alles in schwarze Müllsäcke.
Die Verwandlung war erstaunlich. Der Pensionszimmer-Kitsch verwandelte sich zu altmodischer Eleganz, über die selbst die skeptische Lorraine begeistert in die Hände klatschte. Doch ihre Anerkennung verwandelte sich in abgrundtiefe Angst, als am folgenden Mogen Marilyns nächste Errungenschaft eintraf: ein Computer, der das Buchungsbuch ersetzen und sie endlich mit der wunderbaren Welt des Worldwide Web vernetzen würde.
»Wir sind jetzt computerisiert?«, hauchte Lorraine entsetzt. Als der Bildschirm mit der Willkommensfanfare aufleuchtete, jammerte sie ängstlich: »Das sieht aber kompliziert aus!«
»Oh, es ist schrecklich kompliziert«, nickte Liesel wissend.
Lorraine wirkte wie vernichtet, bis Liesel ihr mit einem
Zwinkern klarmachte, dass es nur Spaß war. Fast bekam sie dafür ein Lächeln.
Trotz des Gästemangels waren sie erstaunlich beschäftigt. Sie kontrollierten, ob alles den strengen Feuer- und Sicherheitsmaßnahmen und der Lebensmittelhygiene entsprach. Sie besserten aus, pflegten den Garten, machten eine Bestandsaufnahme der Bettwäsche und putzten ständig. Gott sei Dank war Lorraine das menschliche
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