Verliebt, verlobt, verflucht
vor dem Gebäude des Stadtanzeigers Peretruas, des Stapers . Das aus saphirrotem Stein erbaute Haus glich mehr einem verfallenen Palast, der eines Tages wohl prunkvoll ausgesehen hatte. Die Türen und Fenster waren in Gold eingefasst, die Farbe blätterte allerdings seit geraumer Zeit ab. Anstelle von Dächern ragten kleine, schiefe Zinntürmchen in die Höhe und schienen fast die Wolken zu berühren.
Natalie und Gingin schritten erhobenen Hauptes auf das goldene Eingangsportal zu. Es wurde von zwei streng dreinblickenden Kröten in schwarzem Anzug samt weißer Fliege bewacht, und kaum dass sie den davor ausgerollten roten Teppich betraten, öffneten die Kröten ihnen sich verneigend die Tür.
Natalie preschte sofort voran, ohne sich über die ungewohnte Höflichkeit der Kröten zu wundern. Gingin konnte gerade noch »Natalie« rufen, als diese gegen den großen Mann prallte, für den die Kröten die Tür eigentlich aufgehalten hatten. Ein empörtes Schnauben ertönte und Natalie sah erschrocken zu dem Gesicht des stattlichen Mannes auf, der ihr bekannt vorkam. Es war der Bürgermeister von Peretrua!
Er verzog keine Miene und sah mit seiner randlosen Brille über sie hinweg. In einen unscheinbaren Filzmantel gekleidet, sah er nicht nach einer bedeutenden Persönlichkeit aus. Doch das an seiner Brust geheftete goldene Stadtwappen mit dem blauen ‚B’ für den Bürgermeistertitel verriet seinen Status. Und ausgerechnet mit ihm musste Natalie zusammenstoßen!
Sie schloss kurz die Augen und hoffte, ein schwarzes Loch würde sie auf der Stelle verschlucken, doch nichts dergleichen geschah, als sie die Augen wieder öffnete.
So ein Mist, dachte sie im Stillen. Das konnte auch nur ihr passieren. Und sie warf sich sogleich auf die Knie und stammelte: »Verzeiht mir, Herr.«
Gingin tat es Natalie aus Solidarität gleich. »Verzeiht mir«, stammelte sie und warf sich neben Natalie ebenfalls auf die Knie.
»Du dummes Ding«, zischte eine eisige Stimme, die Natalie jedoch nicht dem Bürgermeister zuordnete. Eine kalte Hand fasste ihr in den Kragen und zog sie ruckartig und unsanft in die Höhe. Sie blickte in das schuppige Gesicht der Echse Santimono, der rechten Hand des Bürgermeisters. Die grüngelben Augen rollten bedrohlich hin und her. Auf dem kahlen Kopf trug sie einen viel zu großen schwarzen Zylinder, der sie noch größer erscheinen ließ. Die rote Zunge lispelte und stieß beim Reden zwischen ihre spitzen Zähne. Wenn Natalie nicht in einer so prekären Lage gewesen wäre, hätte sie wohl über ihr Erscheinungsbild laut auflachen müssen. Doch jetzt war ihr ganz und gar nicht nach Lachen zumute.
»Du wagst es, dich dem Bürgermeister in den Weg zu stellen?«, herrschte Santimono Natalie an.
»Das war ein Versehen«, erwiderte sie kleinlaut.
»Ich bin mir sicher, dass das Mädchen keine bösen Absichten hatte«, sagte eine durchdringende Stimme.
Natalie sah hocherfreut den Eigentümer des Stapers , Herrn Baristono, oder wie Natalie ihn nannte, Onkel Barno, herbeieilen. Der kleine Mann mit Goldbrille und lockigem, grausilbernem Haar hatte große Ähnlichkeit mit einem Puddingberg. Er hüpfte aufgeregt hin und her und glich damit mehr und mehr einem Wackelpudding, während ihm die Nervosität rote Flecken ins Gesicht zauberte. Der blaue Frack hatte wohl schon bessere Zeiten erlebt, von Motten zerfressen spannte er sich über den beträchtlichen Leib. Baristono zog Natalie und Gingin zur Seite und redete dann beschwichtigend auf die zischelnde Eidechse ein, während die beiden die Gelegenheit nutzten und sich in das Gebäude stahlen, vorbei an der mit Schwertern und Rüstungen versehenen Leibgarde des Bürgermeisters und den grinsenden Kröten.
Entnervt steuerten sie in die Eingangshalle. Graues, kaltes Gestein empfing sie. Die Halle war fast vollkommen leer. Vor einem goldenen Torbogen saß die Empfangsdame, die farblich auf ihre Umgebung abgestimmt war. Die mausgrauen Haare streng zurückgekämmt und das goldene Kostüm festsitzend, musterte sie Natalie und Gingin wie immer herablassend.
»Guten Tag, Fräulein Crabina. Ich würde gerne zu meiner Mutter«, stammelte Natalie betont freundlich und dachte sich, dass sie den Satz bestimmt gerade das hundertste Mal aufgesagt hatte.
»Und ich würde gerne zu meinem Vater, Flavio Tucin«, ergänzte Gingin.
»Guten Tag die werten Fräulein. Ich schicke eine Elfe zu deiner Mutter und zu deinem Vater, denn ich weiß nicht, ob sie Zeit für euch haben«, erwiderte
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