Verlockend untot
vermutete ich.
»Nein. Im Vergleich mit den glamourösen, glitzernden Höfen, die Ruth gelegendich gesehen hatte, war die Erde armselig, verseucht und voller Elend. Es half nicht, dass sie während der industriellen Revolution geboren wurde, die tatsächlich vielen Menschen jede Menge Elend bescherte. Die Themse stank wie ein offener Abwasserkanal und war praktisch auch einer. In den neuen Industriestädten wie Birmingham und Manchester gab es überfüllte, schmutzige Wohnviertel, in denen es von Ratten wimmelte. Die Menschen dort schufteten sich zu Tode oder starben an Krankheiten und den Folgen rücksichtsloser Umweltverschmutzung. Selbst Prinz Albert erlag der Diphtherie, von Schloss Windsors Abwässern verursacht.
Es war ein scheußliches Zeitalter, und Ruth hasste es, umso mehr nach den kurzen Blicken, die sie auf Welten jenseits der menschlichen Vorstellungskraft werfen konnte.«
»Aber davon hat sie dir nichts gesagt?« Eigentlich war es nur eine rhetorische Frage. Wie viel konnte Pritkin mit einer Person gemeinsam haben, die jene Welt liebte, die er verabscheute?
»Sie hat jemandem davon erzählt, aber nicht mir.«
»Rosier.« Ich wusste nicht, woher ich das wusste. Vielleicht lag es daran, dass sich Pritkins Gesicht veränderte, wenn er von seinem Vater sprach.
Er nickte knapp. »Sie wollte ihn sehen und erlangte mit der Nennung meines Namens Zugang. Später erzählte er mir, sie hätte ihm gesagt, dass sie ihr ganzes Leben wie ein Kind in einem Süßigkeitenladen gelebt hätte – ohne die Möglichkeit, etwas zu kaufen. Sie sah zwar die Schönheit ihrer anderen Welt, hatte aber keinen Zugang zu ihr.«
»Wegen ihrer gemischten Abstammung?«
»Nein. Dämonen sind nicht wie einige der Elfen, die eifersüchtig auf ihre Blutlinien achten und jede noch so geringe Unreinheit fürchten. Sie vermischen sich immer wieder mit anderen Völkern, auch untereinander, mit anderen Dämonen-Spezies, und mit Menschen. Alles ist ihnen recht, wenn sie sich davon Vorteile gegenüber Rivalen versprechen.«
»Warum konnte Ruth dann nicht einfach in die andere Welt wechseln? Wenn es ihr hier nicht gefiel…«
Pritkin schüttelte den Kopf. »Es sollte dir eigentlich nicht schwerfallen, es zu verstehen. In dieser Hinsicht, wie in manch anderer, haben deine Vampire große Ähnlichkeit mit Dämonen. Was ist die einzige Sache, die für Vampire wirklich Bedeutung hat?«
Ich zögerte und war mir nicht sicher, worauf er hinauswollte. »Es gibt viele Dinge …«
»Wirklich? Wenn das stimmt… Warum ist dein Freund Raffael dann nicht Oberhaupt seiner eigenen Familie? Er ist unbestreitbar einer der größten Künstler, die der Westen hervorgebracht hat, und doch dient er einem elenden Jammerlappen wie Antonio.«
»Er dient ihm nicht mehr. Mircea hat die Verbindung mit ihm gelöst.«
»Aber bis vor Kurzem war Raffael Antonios Diener.«
»Nicht freiwillig. Rafe ist ein Meister, aber nicht so mächtig…«
»Da haben wir's. Macht. Die eine Sache, und vielleicht die einzige, die deine Vampire respektieren. Bei den Dämonen sieht es ähnlich aus. Und Ruth hatte praktisch keine Macht.«
»Aber sie war zum Teil Dämonin, hast du gesagt.«
»Ja, aber Dämonen sind wie alle anderen Völker. Wenn man die Gene miteinander vermischt, weiß man nie, wie das Ergebnis aussieht. Selbst vollblütige Ahhazu sind nicht sehr stark, und in Ruths Fall… Genauso gut hätte sie nur Mensch sein können, wie sie vorgab.«
»Du bist ebenfalls zum einen Teil Dämon und zum anderen Mensch. Und du hast mir selbst gesagt, dass auch die Inkuben nicht als eine sehr mächtige Spezies gelten. Und doch …«
»Ja, aber meine andere Hälfte ist ein magischer Mensch, und das war bei ihr nicht der Fall. Was zusammen mit dem Elfenblut von meiner Mutter oder der speziellen Kombination der Gene dazu geführt hat, dass ich besondere Kraft bekam, besondere Fähigkeiten.
Ich wurde in magischer Hinsicht nicht schwächer, sondern stärker, als es eigentlich der Fall sein sollte. Andernfalls hätte ich vermutlich nie erfahren, wer mein Vater ist. Er hätte mich als ein weiteres fehlgeschlagenes Experiment verstoßen und einfach weitergemacht. Das galt auch für Ruth. Ohne Macht interessierte sie niemanden.«
»Bis auf dich.«
Pritkin schwieg einige Sekunden. Als er wieder sprach, klang seine Stimme anders, weicher und fast zärtlich. Er schien nach Worten suchen zu müssen, vielleicht deshalb, weil er dieses Thema sonst immer mied.
»Ich glaube, sie sah in mir
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