Verlockend untot
hineingezogen, genau wie jetzt. Alle sind jemandem verpflichtet; für jeden gibt es Beschränkungen, mit denen man fertigwerden muss. Das gilt auch fiir Senatoren, auch für Mircea.«
Mir wurde allmählich klar, warum sich Marco auf dieses Thema eingelassen hatte. Ich seufzte und vergrub den Kopf wieder im Kissen. »Auch Pythien?«
»Jeder empfängt Anweisungen von jemandem«, betonte Marco noch einmal. »Mircea bekommt sie von der Konsulin, und glauben Sie mir, manchmal gefällt ihm das überhaupt nicht. Aber er führt sie trotzdem aus.«
Ich rollte mich herum und richtete einen müden Blick auf Marco.
»Warum tut er das, wenn es ihm nicht gefällt?«
Marco runzelte die Stirn. »Es ist seine Pflicht.«
»Und sie ist sein Boss, seine Vorgesetzte.«
»Ja.«
»Und da haben Sie Ihre Antwort.«
»Welche Antwort?«
Ich seufzte erneut. »Mircea tut, was ihm die Konsulin sagt, weil er ihr Diener ist.«
»Ja.«
»Aber ich bin nicht seine Dienerin.«
Ich stand auf und ging ins Bad.
Marco folgte mir natürlich. »Wie meinen Sie das?«
»Ich bin seine Freundin, ja, aber seine Dienerin? Nein.« Ich drehte den Hahn auf und ließ heißes Wasser in die Wanne laufen.
»Worauf wollen Sie hinaus?«
»Er kann mich bitten, etwas zu tun, und ich schätze, in den meisten Fällen käme ich seinen Bitten nach. Das hätte ich auch gestern Abend getan, wenn es kein Befehl gewesen wäre. Ich hatte einen verdammt anstrengenden Tag hinter mir und gar nicht den Wunsch, die Suite zu verlassen. Aber er richtete keine Bitte an mich, sondern gab mir einen Befehl. Und wenn ich anfange, Befehle von einem Senator entgegenzunehmen – von irgendeinem –, brauche ich mich nicht zu wundern, wenn mich niemand ernst nimmt.«
»Die Konsulin nimmt Mircea ernst.«
»Als einen Diener, den sie schätzt, ja. Aber sie weiß: Wenn sie Druck ausübt, gibt er nach. Er verdankt ihr seine Stellung, und deshalb kann er nie ganz unparteiisch sein. Aber für mich sind Objektivität und Unabhängigkeit ein Muss. Andernfalls schenkt mir der Kreis keine Beachtung, weil er mich für ein Werkzeug der Vampire hielte, und der Senat würde mich ignorieren, weil er mich herumkommandieren könnte. Es wäre wieder das Tony-Syndrom, und ein solches Leben will ich nicht fuhren, auf keinen Fall.«
Marco nahm auf der Wannenkante Platz, und ich hörte, wie das Porzellan ächzte. »Was meinen Sie mit ›Tony-Syndrom‹?«
Jemand hatte den Vorrat an Badesalz erneuert, und ich gab die Hälfte des Glases in die Wanne. »Die meisten Seher sehen beide Seiten des Lebens«, sagte ich. »Sie sehen das Baby, das sich jemand erhofft hat, oder die längst überfällige Beförderung, oder die Liebe ihres Lebens, direkt hinter der nächsten Ecke. Es hilft, all die schlechten Dinge auszugleichen, jene Dinge, die niemand sehen will. Die Erdbeben, Bombenanschläge, Brände und Autounfälle. Aber mir hat diese Art von Balance immer gefehlt. Ich sehe die guten Dinge nicht. Ich habe sie nie gesehen.«
»Klingt übel.«
»Es ist anstrengend, ermüdend und deprimierend. Man kann kaum das Leben genießen, denn jedes Mal, wenn man einen guten Tag hat, sieht man plötzlich, wie jemand anders leidet, an Schmerzen oder Kummer. Es sammelt sich zu einer großen Last an.«
Marco nickte.
»Schließlich habe ich gelernt, nicht zu sehen, doch für lange Zeit blieb mir diese Möglichkeit versagt. Um damit fertigzuwerden, habe ich mir immer wieder gesagt, dass das, was ich sah, in der Zukunft lag, und dass sich einiges davon vielleicht vermeiden ließ. Ich redete mir ein, Dinge verändern zu können, zumindest für manche Leute. Und Tony versprach mir, Benachrichtigungen herauszugeben.«
»Er log.«
»Natürlich log er. Aber als Kind habe ich ihm damals geglaubt, vielleicht weil ich ihm glauben wollte. Als ich schließlich dahinterkam und ihn zur Rede stellte, zuckte er nur mit den Schultern und meinte, dass man mit Tragödien viel Geld verdienen könnte.«
»Klingt ganz nach dem dicken kleinen Wiesel.« Marco kniff die Augen zusammen und musterte mich. »Soll das heißen, dass Sie vom Senat erwarten, Tragödien zu vermeiden?«
»Nein. Aber wenn ich etwas kommen sehe, etwas, das katastrophal für die Welt sein könnte, erwarte ich vom Senat, dass er mir zuhört. Und derzeit sind die Senatoren dazu wahrscheinlich nicht bereit, weil sie mir nicht genug Respekt entgegenbringen.«
Marco seufzte und sah mich an, die Ellenbogen auf seine dicken Oberschenkel gestützt. »Hören Sie, ich verrate
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