Verlockend untot
bis mir klar wurde, dass er plötzlich nicht mehr da war. Dass Mircea gerade mit ihm gesprungen war – er hatte den ganzen tretenden, kämpfenden Haufen über den Dachrand der Kolonnade gestoßen.
Womit alles in Ordnung gewesen wäre, wenn ich noch hätte springen können, aber das konnte ich nicht, und das Ende der Kolonnade kam schnell näher. Ich versuchte ebenfalls abzuspringen, denn ich stellte es mir alles andere als lustig vor, zusammen mit der Kutsche von der Kolonnade zu stürzen. Wie gesagt, ich versuchte es, aber mein verdammter Fuß steckte irgendwo fest und wollte sich partout nicht lösen, und mir blieb nicht genug Zeit festzustellen, was mit der Mauer nicht in Ordnung war, die vor mir erschien, und …
Und dann sah ich stattdessen in zwei schöne blaue Augen.
Ich blinzelte, benommen, verwirrt und voller Übelkeit. Einer der Magier lief neben der Kutsche, bei der es sich um die handelte, mit der meine Mutter unterwegs war, mitten auf der Straße, wie es sich gehörte, und ich lag plötzlich auf ihr. Der Magier packte meine Mutter, und sie unterbrach den Blickkontakt mit mir lange genug, um ihn anzusehen, und im nächsten Moment war er weg; er verschwand einfach, wie Niall aus der Suite. Eine Sekunde später erschien er wieder, auf der Straße vor uns, und meine Mutter überfuhr ihn.
»Verdammt, Liz!«, sagte der Entführer und starrte sie an.
»Wer bist du?«, fragte sie, und der Blick dieser erstaunlichen Augen richtete sich erneut auf mich.
Aus irgendeinem Grund konnte ich nicht antworten. Ich sah in das wunderschöne Gesicht, sah es näher als jemals zuvor und näher, als ich es jemals für möglich gehalten hätte, und meine Augen füllten sich mit Tränen, und ich verzog das Gesicht, und vermutlich sah ich hoffnungslos idiotisch aus. Doch sosehr ich mich auch bemühte, mir fiel einfach nichts ein, das ich sagen konnte …
Und dann antwortete der Kidnapper für mich.
»Agnes hat sie geschickt«, sagte er rau. »Es ist eine Falle!«
»Das glaube ich nicht«, erwiderte meine Mutter, ohne den Blick von mir abzuwenden. Ich weiß nicht, welchen Gesichtsausdruck ich zeigte, aber die Frau in der Kutsche wirkte verblüfft, ungläubig und schockiert. Sie streckte die Hand aus, um meine Wange zu berühren, und ihre Finger zitterten leicht. »Das glaube ich nicht«, flüsterte sie.
»Und ich sage dir, sie arbeiten zusammen!«, zischte der Magier.
»Sie hat der Schlampe geholfen, mich zurückzuholen …«
»Agnes ist eine gute Frau.«
»Sie ist eine Schlampe!«, heulte er. »Und die da ist ebenso schlimm. Du musst…«
Ich fand nie heraus, was er meinte, denn vier Magier sprangen gleichzeitig auf die Kutsche, was eigentlich unmöglich sein sollte, denn mindestens zwei von ihnen hätten tot sein müssen. Aber auf mich wirkten sie alle sehr lebendig, insbesondere der eine, der den Kidnapper an der Kehle packte und auf die Beine riss. Ich sah nicht, was die anderen machten, denn im nächsten Moment sprangen wir und flogen mit einer Leichtigkeit durch die Zeit, wie ich sie nie zuvor kennengelernt hatte.
Für gewöhnlich hatte das Springen etwas Metallisches und Elektrisches, mit einem leicht erschreckenden Beigeschmack, wie die aufregende Fahrt mit einer Achterbahn, von der man befürchtete, sie könnte außer Kontrolle geraten. Aber das hier geriet nicht außer Kontrolle. Es war warm und weich und natürlich wie das Atmen, eine sanfte Umarmung, die uns irgendwohin brachte, oder irgendwann hin, in eine andere Zeit. Wohin auch immer, mir war es schnuppe. Ich wollte in dieser Umarmung bleiben …
»Aber dies ist nicht dein Kampf«, sagte meine Mutter, als uns die Strömung an unbekannte Gestade spülte.
Ich schüttelte den Kopf und versuchte zu antworten, dass sie sich irrte, dass dies auch mein Kampf war.
Und dann stand ich plötzlich an einer Straßenecke, umgeben von flackernden Neonlampen, fallenden Schneeflocken und schimmernden Netzen mit hängenden Sternen, und ich beobachtete, wie eine viktorianische Kutsche über die Fahrbahnen einer modernen Straße rollte. Aber nur für einen Augenblick – dann verschwand sie im Nichts.
Und meine Mutter mit ihr.
Zwölf
Ich stand an der Straßenecke und schwankte leicht, während sich Schneeflocken in meinem Haar sammelten.
Es
war ein wundervoller letzter Anblick,
dachte ich verdutzt. All diese Leute zu Weihnachten… danach sah es jedenfalls aus. Die hängenden Sterne waren Bänder aus Lichtern, die man zwischen den Gebäuden aufgehängt hatte. Es
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