Verlockend wie ein Dämon
ein weiterer schöner Augenblick in Azims Armen war dahin, als hätte er nie stattgefunden. Lena blieb traurig und mit feuchten Augen zurück.
Dann rannte sie zum westlichen Zaun. Sie setzte in vollem Lauf darüber hinweg und schlängelte sich zwischen den niedrigen Büschen hindurch, die ihr in den Weg kamen. Diesmal würde sie einen Bogen um San Jose machen. Brian rechnete sicher damit, dass sie sich südwärts hielt, also würde sie nach Norden gehen. Nach San Francisco. Sie hatte noch mehr als vierundzwanzig Stunden vor dem geplanten Austausch vor sich und nicht die Absicht, Heather dem Zorn des Bösen zu überlassen.
Diesmal würde sie sie retten – gleichgültig, was sie dafür tun musste.
»Dem Roma-Rat zufolge gehören das Pontius-Pilatus-Linnen und die Judas-Münzen zu den fünf Reliquien, die unter der Bezeichnung ›Schandreliquien‹ bekannt sind«, erläuterte MacGregor, während er sich auf dem Ledersofa niederließ und den Haufen kleiner Plastiktüten auf dem Couchtisch betrachtete. »Jede steht für einen Moment während der Kreuzigung, in dem wir Menschen uns in unserem schlechtesten Licht gezeigt haben.«
»Lass mich raten«, sagte Brian grimmig. »Das Kreuz ist auch eine.«
»Es ist noch ein bisschen komplizierter.« MacGregor hob eine der Münzen hoch und besah sie sich näher. »Die Schandreliquien haben alle etwas mit der Kreuzigung zu tun, kamen jedoch nie mit dem Sohn Gottes in Kontakt. Sie wurden durch die Schande der Menschen geschwärzt, aber nicht durch Jesu Berührung gesegnet.«
»Und jede hat ihre eigene dunkle Macht – das wissen wir schon. Hat der Rat irgendetwas über eine Verbindung zwischen den fünf Reliquien gesagt?«
»Aye. Sie werden getrennt voneinander aufbewahrt, denn zusammen verkörpern sie den dunkelsten Tag der Menschheit und den schwärzesten Teil des menschlichen Herzens. Das Böse, das in ihnen gärt, wird stärker, je mehr Reliquien vereint werden, aber nur die Bündelung aller fünf hat die verheerendste Wirkung – falls sie jemals zusammengeführt werden, würden sie ein nacktes, unleugbares Zeugnis ablegen für die Versündigung der Menschheit gegen den Sohn Gottes, und jede Seele auf der mittleren Ebene wäre mit Schande besudelt. Wir würden alle zur Hölle fahren.«
Die Verkörperung des puren Schreckens also.
»Haben Gott und die Engel keine Pläne für diesen Fall geschmiedet? Sie müssen doch gewusst haben, dass Satan seine Hand nach den Schandreliquien ausstrecken würde. Warum haben sie sie nicht auf die obere Ebene geholt?«
»Die Schandreliquien zu berühren birgt Gefahren – für Menschen wie für Engel und Dämonen. Sie auf die obere Ebene zu holen hieße, Korruption und Verderben auf breiter Front zu riskieren. Die Engel konzentrieren sich stattdessen darauf, die Dämonen in die Schranken zu weisen und der menschlichen Rasse den Rücken zu stärken.«
»Warte. Die Schandreliquien haben auch Einfluss auf Dämonen?«
MacGregor nickte. »Er rührt von der dunklen Macht her, die die Reliquien besitzen. Die Judas-Münzen rufen Verrat hervor, auch unter Dämonen. Aber eine Reliquie wie das Linnen wird nur wenig oder gar nichts bei Dämonen ausrichten, denn es löscht den Glauben aus, und Dämonen glauben sowieso nicht.«
»Satan geht also ein großes Risiko ein, wenn er alle Reliquien zusammenholt. Seine Armee könnte sich gegen ihn wenden.«
»Zweifellos deshalb haben wir es nur mit einzelnen Angriffen zu tun und nicht mit offenem Krieg.«
Brian schnaubte. »Danke, Gott, für Deine kleinen Geschenke.«
»Danke lieber noch niemandem. Denk daran – Angst ist die wirksamste Waffe des Teufels. Der Roma-Rat glaubt, dass er die Absicht hat, mit den Schandreliquien die bereits wachsende Angst vor dem nahenden Ende des Maya-Kalenders zu schüren und zu seinen Gunsten den dunklen Kräften weiter Vorschub zu leisten. Wenn er genug Menschen dazu bringt, in ihrer wahnsinnigen Angst Gott den Rücken zu kehren, wird der Zustrom der Seelen in die Hölle eine Sturzflut werden, und Satan wird Gott bezwingen.«
Brian nahm eines der kleinen Zierkissen von der Couch und warf es auf einen Sessel. »Du willst also damit sagen, dass er für seinen Sieg gar nicht alle Reliquien braucht.«
MacGregor sah zu, wie das Kissen von der Armlehne des Sessels abprallte und zu Boden fiel. »Genau. Der Rat war in heller Aufregung, als ich ankam. Es ist von höchster Wichtigkeit, zu verhindern, dass Satan auch noch die anderen Reliquien in die Hände fallen.«
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