Verlockendes Dunkel
seine Haltung auf dem Stuhl oder bewegte die Schultern unter einem tiefen Atemzug.
Sein Gesichtsausdruck war entspannt, sein Schweigen ganz ohne Verbitterung, und kein Schatten aus der Vergangenheit trübte die Schönheit seiner fein gemeißelten Gesichtszüge. Diese Beobachtungen verringerten Elisabeths Nervosität, und fast konnte sie sich einreden, dass alles so war, wie es sein sollte. Dass dies der Ort war, an den sie gehörte, und er der Mann, mit dem sie zusammen sein sollte. Dass ihr Leben nicht auf katastrophale Weise vom Kurs abgekommen war.
»Falls mir keine Brokkoli aus den Ohren sprießen, solltest du aufhören, mich anzustarren, und dich wieder an die Arbeit machen«, bemerkte Brendan, ohne den Blick von der Seite zu erheben, die er gerade las. »Die Antwort wird nicht aus dem Buch herausspringen und dich beißen.«
Elisabeth presste die Lippen zusammen, um nicht laut zu lachen. Rücksichtsvoll? Brendan? Wohl kaum. Trotzdem hatte all sein beißender Sarkasmus etwas so Echtes, Aufrichtiges, dass kein noch so süßlicher Charme es damit aufnehmen konnte. Und er bewirkte, dass sie sich beweisen und seine – wenn auch widerwillige – Anerkennung gewinnen wollte.
Entweder war es das, oder sie hatte schlicht und einfach den Verstand verloren.
Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Buch zu.
Vermutlich lag es an all dem Lesen.
Brendan starrte mit sinkendem Herzen auf die mit einem Seil abgesperrte Ruine. Ein rußgeschwärzter Schornstein, in dem sich anscheinend Vögel eingenistet hatten, ragte in den grauen Himmel auf, und überall wuchs hohes, dürres Unkraut zwischen Trümmerhaufen. Brendan sah zerbrochene Kacheln, verkohlte Balken, die zersprungenen und zerschmolzenen Arme eines Kerzenleuchters. Wasser stand in öligen schwarzen Pfützen zwischen den Balken, und bei jedem Einatmen roch Brendan den säuerlichen Geruch von Ruß und Schimmel.
Er duckte sich unter dem Absperrseil hindurch und bahnte sich einen Weg durch Schutt und Trümmer. Hob die verkohlten Überreste eines Buches auf, dessen durchnässte Seiten zusammenklebten, und warf es beiseite, um eine schmutzverkrustete Scherbe auszugraben, die von einer Schüssel oder einem Wasserkrug zu stammen schien. Ein schwacher metallischer Glanz ging von einem weiteren verbogenen und halb verrosteten Kerzenständer aus.
Stunden des Lesens und Analysierens schwer verständlicher Abhandlungen gelehrter Theoretiker, eingesperrt in einem nicht allzu großen Zimmer und mit Elisabeths verführerischer Präsenz ganz in der Nähe, hatten Brendan schließlich hinausgetrieben, um bei einem langen Spaziergang einen klaren Kopf zu bekommen. Ein paar Sekunden mehr von Lissas Parfum, und er hätte auf dem Arbeitszimmertisch beendet, was er vergangene Nacht begonnen hatte. Zum Teufel mit seiner noblen Zurückhaltung oder Helenas Möbeln!
Wie er ausgerechnet hier gelandet war, konnte er jedoch nicht sagen. Ihm war nicht bewusst gewesen, wohin ihn sein Spaziergang führte, bis er aufblickte und die schwarz verkohlten Trümmer sah. Und dann hatte er nicht einfach weitergehen können, als bedeutete dieser Ort ihm nichts.
»Sie da! Können Sie nicht lesen? Auf dem Schild steht Betreten verboten! « Ein ernst dreinblickender Polizeibeamter starrte ihn vom Gehsteig an.
»Ich sehe mich nur um.«
Das Stirnrunzeln des Wachtmeisters vertiefte sich. »›Betreten verboten‹ bedeutet, dass sich hier niemand umsehen darf.«
Brendan erlaubte dem Mann, ihn von der Ruine wegzuführen. »Das muss ja ein Riesenfeuer gewesen sein.«
»Es loderte auf wie eine Fackel und erhellte den Himmel vom Liffey bis zum Mountjoy Square. Ich hatte Dienst in jener Nacht und hab es selbst gesehen.« Stolz schwang in seiner Stimme mit. »Kennen Sie die Familie, die hier lebte?«
»Vor langer Zeit.«
»Es heißt, sie seien verflucht. Der alte Earl wurde von seinem eigenen Sohn ermordet, und der neue Earl sitzt schwer in der Tinte und hat die Gläubiger auf dem Hals. Ich möchte keiner von denen sein, für kein Geld der Welt.«
Stimmte das? Waren die Douglas’ verflucht? Brendan holte tief Luft, als er wieder Aidans Gesicht unter den Toten sah, eine beißend scharfe Windbö ihm die Warnung des Königs überbrachte und er Sabrinas Weinen hörte, als sie kämpfte, um den Mann zu retten, den sie liebte. Und dann wurde die Szene von dem Bild überlagert, das er sich nur vorstellen konnte, aber trotzdem immer bei sich trug: Vaters Hinrichtung durch die Amhas-draoi . Seine letzten Momente, als
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