Verloren: House of Night 10 (German Edition)
Sumpf aus Zorn und Gewalt der gefallene Unsterbliche jahrhundertelang gebrütet hatte. Allein dass Rephaim existierte, war einer der Beweise dafür, welches Leid sein Vater anderen zuzufügen in der Lage war.
Seine Schultern sanken nach vorn. Er hatte den Teil des Schulgeländes erreicht, wo die zerschmetterte Eiche lag – eine Hälfte gegen die Schulmauer gestützt, die andere lang hingestreckt auf der Wiese. Der Stamm des Baumes sah aus, als hätte ein zorniger Gott einen Blitz hindurchgeschleudert.
Rephaim wusste es besser. Sein Vater war ein Unsterblicher, aber kein Gott. Kalona war lediglich ein Krieger, noch dazu ein gefallener.
Seltsam beunruhigt wandte er den Blick von dem tief gespaltenen Stamm im Zentrum der Zerstörung ab, setzte sich auf einen der Äste am Rand der wirren Krone und betrachtete die gegen die Schulmauer gedrückten dicken Zweige.
»Man sollte das wieder in Ordnung bringen«, sagte er laut, um die schweigende Nacht mit der Menschlichkeit seiner Stimme zu erfüllen. »Wir könnten es zusammen versuchen, Stevie Rae und ich. Vielleicht ist der Baum ja noch nicht ganz tot.« Er lächelte. »Immerhin konnte meine Rote mich heilen. Warum dann nicht auch einen Baum?«
Der Baum antwortete nicht, aber während Rephaim sprach, hatte er ein sonderbares Déjà-vu. Als wäre er vor kurzem hier gewesen, aber nicht einfach an einem anderen Schultag. Sondern mit dem Wind in den Flügeln, das strahlende Blau des lockenden Tageshimmels über ihm.
Er runzelte die Stirn und rieb sie sich dann, weil er einen leichten Kopfschmerz verspürte. War er tagsüber als Rabe hier gewesen, in jenen Stunden, da seine Menschlichkeit sich so tief in ihn zurückzog, dass sie ihm nur wie ein schattenhaftes Gewirr aus flüchtigen Bildern, Tönen und Gerüchen vorkamen?
Die einzige Antwort war ein dumpfes Pochen in seinen Schläfen.
Um ihn herum spielte der Wind in den gefällten Ästen und ließ die wenigen winterbraunen Blätter rascheln, die sich noch immer hartnäckig daran klammerten. Einen Moment lang war ihm, als versuchte der Baum, mit ihm zu sprechen – ihm seine Geheimnisse zu verraten.
Rephaims Blick wanderte wieder zum Stamm des gespaltenen Baumes. Schatten. Lose Rindenstücke. Zersplittertes Holz. Herausgerissene Wurzeln. Und es sah aus, als senkte sich der Boden unter dem Baum – als bildete sich dort eine Art Grube.
Er erschauerte. Unter dem Baum hatte es tatsächlich eine Grube gegeben, in der Kalona jahrhundertelang unter der Erde gefangen gewesen war. Die Erinnerung an diese Zeit und an die schreckliche, schattenhafte Existenz voller Zorn und Gewalt und Einsamkeit, die er durch sie hindurch geführt hatte, war noch immer Teil der schweren Bürde, die auf Rephaim lastete.
»Göttin, ich weiß, dass du mir meine Vergangenheit vergeben hast, und dafür werde ich dir ewig dankbar sein. Aber könntest du mich vielleicht auch lehren, mir selbst zu vergeben?«
Wieder raschelte die Brise in dem Baum. Es klang beruhigend, fast als wäre das Flüstern des uralten Baumes die Stimme der Göttin.
»Das nehme ich als Zeichen«, sagte er laut und presste die Handfläche auf die Rinde des Astes, auf dem er saß. »Ich werde Stevie Rae bitten, mir zu helfen, wiedergutzumachen, was dir angetan wurde. Bald. Ich gebe dir mein Wort. Ich kehre bald zurück.«
Als Rephaim weiterging, um seine Patrouille fortzusetzen, war ihm, als hörte er, wie sich tief unter dem Baum etwas regte. Er meinte, darin so etwas wie den Dank der uralten Eiche zu erkennen.
Aurox
Drei Schritte hin, drei zurück, so durchmaß Aurox wieder und wieder den kleinen Hohlraum unter der zerborstenen Eiche. Drei kleine Schritte, Wendung, wieder drei Schritte. Und fieberhaft dachte er nach … dachte nach … und wünschte sich verzweifelt, er hätte einen Plan.
Sein Kopf schmerzte. Der Fall hatte ihm nicht den Schädel gebrochen, aber die Beule hatte geblutet und war geschwollen. Er hatte Hunger. Und Durst. Und es fiel ihm schwer, unter der Erde Ruhe zu finden, obgleich er erschöpft war und der Schlaf gewiss seine Heilung gefördert hätte.
Warum nur hatte er es für eine gute Idee gehalten, zur Schule zurückzukehren – sich an genau dem Ort zu verbergen, wo der Lehrer, den er getötet hatte, sowie der Junge, den er zu töten versucht hatte, wohnten?
Er ließ den Kopf in die Hände sinken. Nicht ich!, hätte er schreien mögen. Nicht ich habe Dragon Lankford getötet! Und nicht ich habe Rephaim angegriffen. Ich habe mich anders
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