Verloren: House of Night 10 (German Edition)
deine Freundin.«
»Auch ohne Erin?«
»Ohne Erin mag ich dich sogar noch lieber«, sagte ich ehrlich.
»Ich auch«, sagte Shaunee. »Ich auch.«
Irgendwann balancierte ich zu Stark zurück und ließ zu, dass er den Arm um mich legte. Ich lehnte den Kopf an seine Schulter, lauschte auf seinen Herzschlag und schöpfte Kraft aus seiner Stärke und seiner Liebe.
»Versprich mir, dass du niemals so sauer auf mich wirst, dass du ganz fremd und kalt und unnahbar wirst«, sagte ich leise zu ihm.
»Versprochen«, gab er ohne Zögern zurück. »Und jetzt mach dich locker und denk nur noch daran, dass ich dich heute Abend zwingen werde, eine andere Pizza auszuprobieren.«
»Nicht Santino? Aber die mögen wir beide doch total gern!«
»Vertrau mir, Z. Damien hat mir von der Pizza Athena vorgeschwärmt. Er meinte, das sei die Ambrosia unter den Pizzas. Ich weiß zwar nicht genau, was das heißen soll, aber ich würde auf ›einsame Spitze‹ tippen, und deshalb hab ich vor, sie heute auszuprobieren.«
Ich grinste, kuschelte mich entspannt an ihn und bemühte mich, wenigstens für die kurze Fahrt vom House of Night zum Bahnhof so zu tun, als bestünde mein größtes Problem darin, meinen Pizza-Horizont zu erweitern.
Fünfzehn
Grandma Redbird
Sylvia begrüßte den Morgen voller Dank und Freude, mit einem leichteren Herzen als seit vielen Jahren – leichter sogar als am Morgen zuvor, als sie mit Aurox gesprochen und sich für Liebe und Vergebung entschieden hatte statt für Zorn und Hass.
Ihre Tochter war tot, aber auch wenn Lindas Verlust sie für den Rest ihres Lebens begleiten würde, Sylvia wusste, dass diese nun der Wüste ihres Lebens entronnen war. Linda war in der Anderwelt bei Nyx, zufrieden und ohne jedes Leid. Im Angesicht dieses Wissens lächelte die alte Frau.
Sie saß an ihrem Arbeitstisch in der Werkstatt ihres Blockhauses, summte ein altes Cherokee-Wiegenlied vor sich hin und wählte aus ihren verschiedenen Kräutern, Steinen, Kristallen und Garnen einen langen dünnen Süßgrashalm aus, den sie um einen Strauß getrockneten Lavendels band. An diesem Morgen würden der reinigende Rauch von Süßgras und der beruhigende Duft von Lavendel sie gemeinsam mit dem Sonnenlicht bei ihrem Morgengesang begleiten. Während sie den Räucherzopf flocht, wanderten ihre Gedanken von Linda, ihrer leiblichen Tochter, zu Zoey, der Tochter ihres Geistes.
»Ach, ich vermisse dich so, u-we-tsi a-ge-hu-tsa «, sagte sie leise. »Heute Abend bei Sonnenuntergang rufe ich dich an. Es wird schön sein, deine Stimme zu hören.« So jung ihre Enkelin war, ihre Göttin hatte ihr ganz besondere Gaben verliehen, und obwohl daraus folgte, dass Zoey jetzt schon eine große Verantwortung trug, schien sie auch mit dem Talent gesegnet zu sein, die Anforderungen dieser Verantwortung zu meistern.
Dieser Gedankengang führte Sylvia zu Aurox – dem Jungen, der sich in eine Bestie verwandeln konnte. »Oder ist es eine Bestie, die sich in einen Jungen verwandeln kann?« Während ihre Hände sich regten, schüttelte die alte Frau den Kopf. »Nein. Ich will das Beste von ihm annehmen und ihn tsu-ka-nv-s-di-na nennen, Bulle, nicht Bestie. Ich habe mit ihm gesprochen, ihm in die Augen geblickt, ich habe gesehen, wie er vor Reue und Einsamkeit geweint hat. Er hat einen eigenen Geist, eine Seele – und somit die Freiheit, zu wählen. Ich will daran glauben, dass Aurox sich für das Licht entscheiden kann, selbst wenn in ihm Finsternis haust. Niemand auf dieser Welt ist vollkommen gut. Oder vollkommen böse.« Sylvia schloss die Augen und atmete den zarten Duft von Süßgras und Lavendel ein. »Große Erdmutter, stärke das Gute in diesem Jungen und lass zu, dass tsu-ka-nv-s-di-na gezähmt wird.«
Von neuem begann Sylvia zu summen, während sie letzte Hand an den Räucherzopf legte. Erst als sie Gras und Lavendel vollständig miteinander verwoben hatte, bemerkte sie, dass es kein Wiegenlied mehr war, das sie summte, sondern eine ganz andersgeartete Melodie: Lied für eine Frau, die im Krieg Mut bewies. Und noch im Sitzen hatten ihre Füße den Rhythmus aufgenommen und stampften im Takt des Steigens und Fallens ihrer Stimme.
Als ihr bewusst wurde, was sie da tat, wurde Sylvia ganz still. Sie sah auf ihre Hände hinab. Zwischen Süßgras und Lavendel war eine blaue Schnur geflochten, in die winzige rohe Türkise eingearbeitet waren. Wie ein Blitz durchfuhr sie eine glasklare Erkenntnis.
»Ein Bündel der Göttin«, sagte sie ehrfürchtig.
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