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Verlorene Eier

Verlorene Eier

Titel: Verlorene Eier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S Scarlett
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vage femininen Geste legt er die Finger vor dem Gesicht zusammen. »Erzähl mir alles darüber.«
    Ich habe mir meine knappe Ansprache sorgsam zurechtgelegt und auf der Zugfahrt mehrfach geübt. Doch als ich meinem einstigen Klassenkameraden in die Augen sehe, schlägt mir das Herz bis zum Hals. »Ich habe neuerdings diese Gefühle, Keith. Keine Ahnung, woher sie plötzlich kommen oder was ich dagegen tun soll. Aber ich kriege sie nicht mehr aus dem Kopf. Dass … dass ich vielleicht … na ja, aber da ist dieser Drang, verstehst du?« Keith nickt. »Nicht immer. Und auch nicht dauerhaft. Aber es ist … na ja … du bist der Einzige, den ich kenne, der …« Abgrundtiefer Seufzer. »Was ich daherrede, ergibt keinerlei Sinn, oder?«
    »Doch, sehr sogar.«
    »Ehrlich?«
    »Du bist eben völlig durcheinander. Das ist alles.«
    »Ich muss mich wie eine Frau anziehen«, zische ich. »Da. Jetzt habe ich es ausgesprochen.«
    »Sehr gut.« Ein gemächliches Lächeln breitet sich auf Keiths Zügen aus.
    Zur Feier des Tages spieße ich ein rundes Teigding auf und schiebe es mir in den Mund. »Interessant. Was ist das?«
    »Ein Augapfel.«
    »Großer Gott.«
    »Wahrscheinlich von einem Schaf.«
    »Es wundert mich, dass du so was essen kannst. Nach … du weißt schon.«
    »Oh, jetzt fang bloß nicht mit dem Frosch an«, stöhnt er pikiert. »Nicht schon wieder dieser Scheißfrosch! Das ist das Einzige, was den Leuten einfällt, wenn sie mich sehen, verdammt. Kürzlich laufe ich diesem Holzkopf Addison in die Arme – vielleicht erinnerst du dich ja an ihn. Er sitzt in irgendeinem Kontrollausschuss – und was ist das Erste, was er zu mir sagt? ›Na, Keith, erstklassiger Bericht, den du dem Ausschuss vorgelegt hast. Und? In letzter Zeit mal wieder Frösche zersäbelt?‹« Keith scheint ein klein wenig sauer zu sein. »Vor hundert Jahren habe ich mal im Finale ein Tor gegen die Mannschaft von der King Alfred’s geschossen. Und ich habe in Latein mit einer glatten Eins abgeschlossen. Aber was darf ich mir anhören? ›Na, in letzter Zeit mal wieder Frösche zersäbelt?‹«
    Keith nimmt einen kräftigen Schluck von diesem Bergbanditen-Zeug.
    »Tut mir leid. Offenbar habe ich einen wunden Punkt getroffen.«
    Plötzlich sieht er reumütig aus. »Mehr als ich, was? Den wunden Punkt, meine ich.« Es ist ein Scherz. Ich bin erleichtert. »Diese Scheiß-Froschgeschichte verfolgt mich noch bis ins Grab.«
    »Froschmann tot. So lautet dann die Schlagzeile, wenn du eines Tages stirbst.«
    Keith ignoriert meinen Kommentar. »Also, du warst gerade dabei, mir zu erzählen, dass du dich wie eine Frau anziehen musst.«
    »Ach ja, stimmt.«
    »Okay, ich sehe, das Ganze macht dich ziemlich verlegen.« Ich schüttle den Kopf. Das stimmt nicht. »Das ist völlig normal. Schließlich ist es selten, dass man in einem so … hohen Alter noch derartige Gedanken hegt.«
    »Du meinst, ich bin zu alt, um … einen neuen Weg einzuschlagen?«
    »Aber nein, Bill, es ist nie zu spät. Und das hier ist kein Weg. Sondern ein ganzer Planet, der auf dich wartet. Ein unglaubliches Paralleluniversum, in dem du sein darfst, was immer du sein willst. Das ist der letzte Augapfel. Willst du ihn haben?«
    »Nein, nimm du ihn ruhig.«
    »Ich wusste es schon ganz früh. Schon als ich noch ein Junge war.«
    »Was? Sogar schon als …«
    »Ja, Bill. Sogar schon, als wir auf der King-William-Knabenschule waren.«
    »Heiliger Strohsack.« Da glaubt man immer, man kennt ja die Leute um einen herum. Natürlich kennt man die Leute um einen herum niemals wirklich, aber meistens hat man eben nicht einmal die leiseste Ahnung, was in einem Menschen vorgeht.
    »Ich habe damals ein paar Sachen meiner Mutter anprobiert. Und es hat mir gefallen, wie es sich anfühlt.«
    Wenn ich jetzt ein leises Übelkeitsgefühl spüre, liegt es garantiert an dem frittierten Augapfel. »Verstehe.«
    »Dieses Gefühl, auf hohen Absätzen herumzulaufen. Oder den Stoff, der um meine Knöchel spielt, auf der Haut zu spüren. Meine Eltern waren beide berufstätig, deshalb hatte ich das Haus während der Ferien ganz für mich.«
    Ich schlucke. »Verstehe.« Bitte sag jetzt nicht, dass du auch noch ihre Unterwäsche angezogen hast.
    »Ich habe herausgefunden, dass ich Seide am allerliebsten mag. Das Gefühl, Seidenstrümpfe anzuhaben. Das war sozusagen mein geheimer Garten.«
    »Das kann ich mir vorstellen.« Wenn ich unbedingt muss.
    Keith heftet seine traurigen dunkelbraunen Augen auf mich.

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