Verlorene Eier
mich?«
»Du brauchst dich nicht so an meinem Arm festzukrallen.«
»Tut mir leid. Das Ganze jagt mir ziemliche Angst ein.«
»Entspann dich, und lass dich nicht aus dem Konzept bringen. Es ist genau wie bei einem Banküberfall: Sobald du wegrennst, bist du verdächtig. Wenn du ganz ruhig weitergehst, bemerkt dich keiner. Je mehr Eier du zeigst, umso besser klappt es.«
Wir überqueren die Euston Road und biegen in den Regent’s Park ein, vorbei an Paaren, die eigentlich genauso aussehen wie wir – wenn es sich bei ihnen auch wohl eher um Touristen als um Transen und ihre Privattrainer handelt – und ein wenig Sonne tanken wollen. Keith schlägt vor, dass wir uns auf eine Bank setzen, und lässt sich männermäßig wie ein Mehlsack hinplumpsen. Ich dagegen biege die Handgelenke durch und lasse mich – mit einem peinlich lauten Knacken meiner Kniescheibe – mit geschlossenen Knien langsam und vorsichtig auf der Bank nieder, wie ich es zahllose Male in Keiths Wohnung geübt habe.
»Bravo«, lobt mein Mentor und hebt zu einem Diskurs darüber an, dass ich zwar beachtliche Fortschritte mache, wir jedoch innerhalb weniger Tage und Wochen etwas zu erreichen versuchen, was üblicherweise Monate und Jahre, wenn nicht sogar ein ganzes Leben in Anspruch nimmt. Zwar könne er bei mir bestenfalls einen Grundstock legen, doch das sollte fürs Erste genügen. Ich würde noch staunen, wie gleichgültig und unaufmerksam die Menschen durch die Welt gingen und dass üblicherweise nur kleine Kinder in der Lage seien, die »Verkleidung« zu entlarven. Er habe mich in den Park mitgenommen, damit ich ein wenig mit meiner neuen »Rolle« spielen, vor allem jedoch in Ruhe andere Frauen beobachten könne. »Sieh dir genau an, wie sie gehen. Wie sie reden. Ihre Arme bewegen. Sich schminken. Sieh es als Feldstudie. Mach dir Notizen. Und heute Abend können wir uns dann darüber austauschen.« Er steht auf.
»Du willst jetzt aber nicht einfach abhauen, verdammt noch mal!«, stoße ich versehentlich mit meiner Männerstimme hervor. Keith straft mich mit einem tadelnden Blick. Eilig versuche ich es noch mal als Angela. »Du denkst ja wohl nicht ernsthaft darüber nach, mich hier allein zu lassen, Keith, oder etwa doch?«
»Im Ministerium findet eine wichtige Konferenz statt. Du kommst schon klar. Die Wohnungsschlüssel hast du ja. Sieh es als Abenteuer.«
Als ich Keith nachsehe, bemühe ich mich, einen Ausdruck heiterer Gelassenheit auf meine geschminkten Züge zu zaubern. Ich bin eine Frau mittleren Alters, die einen herrlichen Frühlingstag genießt. Ein Buch oder eine Zeitung wären praktisch gewesen, um mich dahinter zu verstecken. Ich hole meine Puderdose aus der Handtasche und unterziehe mein Gesicht einer kurzen Prüfung. Alles scheint so zu sein, wie es soll, doch der Anblick der zentimeterdicken Farbschichten lässt mein Unbehagen nur noch weiter wachsen. Ich bin ein Mann in affektierten Frauenklamotten, verdammt noch mal. Wieso zeigen nicht alle mit dem Finger auf mich und lachen sich tot?
Eine junge Frau mit einem Kinderwagen geht an mir vorbei. Offensichtlich ist sie Kindermädchen. Sie sieht nicht mal zu mir herüber.
Als Nächstes hastet ein junger Mann mit einem Handy am Ohr vorbei. Ein kurzer Blick. Vor Verblüffung fällt ihm das Handy aus der Hand, dann wirft er sich auf den Boden und bricht in hemmungsloses Gelächter aus.
(Nein, tut er nicht.)
Ich sehe ein Grüppchen Frauen mit Burkas. Bemerken sie mich? Schwer zu sagen. (Wo ich so darüber nachdenke – eine Burka wäre vielleicht das perfekte Kleidungsstück für Angela Huxtables US -Lesereise.)
Als Nächstes trabt ein etwa fünfzigjähriger Fettsack im Jogginganzug mit seinem Personal Trainer vorbei. Der schweißüberströmte Mann wirft mir einen leidenden Blick zu, ohne sein Tempo zu drosseln.
Vielleicht hat Keith ja recht mit seiner These, dass ich etwas völlig anderes im Spiegel sehe als der Rest der Welt.
Ein alter Sack mit grauem Haar, Budapestern, senffarbenen Cordhosen und einem Tweedsakko mit Krawatte baut sich direkt vor mir auf.
»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich mich zu Ihnen setze?«
Noch ehe ich den Mund aufbekomme – ich bezweifle, dass etwas halbwegs Vernünftiges herausgekommen wäre –, hat er sich neben mir auf der Bank niedergelassen.
Was jetzt? Ich bemühe mich um eine freundliche Miene und richte meine Aufmerksamkeit auf die Wolken, die über die Baker Street hinwegziehen.
»Schöner Tag«, bemerkt er, nachdem er die
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