Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Verlorene Illusionen (German Edition)

Verlorene Illusionen (German Edition)

Titel: Verlorene Illusionen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
Vom Netzwerk:
Eine Modistin, deren Zunge ebenso lose war, wie ihre Augen immer in Bewegung waren, stand auf einer Fußbank und rief den Passanten unaufhörlich zu: »Kaufen Sie sich einen hübschen Hut, Madame! – Kaufen Sie mir doch etwas ab!« Ihr reicher und malerischer Wortschatz wurde durch ihren Tonfall, ihre Blicke und ihre kritischen Bemerkungen über die Vorübergehenden noch mannigfaltiger. Die Buchhändler und die Modistinnen lebten in gutem Einvernehmen. In der Passage, die so stolz den Namen Glasgalerie führte, fanden sich die sonderbarsten Gewerbe. Dort hatten sich die Bauchredner, die Marktschreier aller Art niedergelassen, die Buden, in denen man nichts sieht und die, in denen einem die ganze Welt gezeigt wird. Dort hat sich zum erstenmal ein Mann etabliert, der dann auf allen Märkten zu sehen war und dabei sieben- oder achthunderttausend Franken verdient hat. Er hatte als Wahrzeichen eine Sonne, die sich in einem schwarzen Rahmen drehte, um den in roter Schrift die leuchtenden Worte standen: »Hier sieht man, was Gott nicht sehen kann. Preis zwei Sous.« Der Ausrufer ließ nie eine Person allein hinein, und nie mehr als zwei. War man eingetreten, so stand man mit der Nase dicht vor einem großen Spiegel, plötzlich erschallte eine Stimme, die den Berliner Hoffmann in Schrecken gesetzt hätte, denn sie klang wie ein Automat, dessen Feder abschnurrt: »Meine Herren, Sie sehen hier, was in aller Ewigkeit Gott nicht sehen kann, nämlich Ihr Ebenbild. Gott hat kein Ebenbild!« Die Leute gingen dann beschämt hinaus, ohne ihre Torheit einzugestehen. Aus allen kleinen Türen hörte man ähnliche Stimmen, die Panoramen, Ansichten von Konstantinopel, Marionettenspiele, schachspielende Automaten, Hunde, die die schönste Frau herausfinden konnten, anpriesen. Der Bauchredner Fitz-James ist hier im Café Borel aufgetreten, bevor er nach Montmartre ging, sich den Studenten des Polytechnikums anschloß und dort starb. Es gab dort Obst- und Blumenfrauen und einen berühmten Schneider, dessen Uniformstickereien am Abend wie Sonnen glänzten. Am Vormittag bis gegen zwei Uhr nachmittags war es in den Holzgalerien still, düster und verlassen. Die Handeltreibenden plauderten miteinander, als ob sie bei sich zu Hause wären. Das Rendezvous, das sich die Bevölkerung von Paris dort gab, begann erst gegen drei Uhr, zur Börsenzeit. Sowie die Menge kam, machten sich die jungen Leute, die nach Literatur dürsteten und kein Geld hatten, bei den Ständen der Buchhändler an das unentgeltliche Lesen. Die Gehilfen, die über die ausgestellten Bücher zu wachen hatten, waren freundlich genug, die armen Leute die Seiten umdrehen zu lassen. Ein Duodezband von zweihundert Seiten, wie Smarra, Peter Schlemihl, Jean Sbogar, Jocko, war in zwei Sitzungen verschlungen. In dieser Zeit gab es noch keine Lesekabinette; wenn man ein Buch lesen wollte, mußte man es kaufen; daher wurden damals die Romane in einer Anzahl verkauft, die heutzutage fabelhaft schiene. Es lag also in diesem Almosen, das man der jungen gierigen und armen Intelligenz schenkte, etwas echt Französisches. Die Poesie dieses schrecklichen Basars setzte mit dem Beginn des Abends ein. Von allen umliegenden Straßen kamen eine große Zahl Freudenmädchen, die dort unentgeltlich auf und ab gehen durften. Von allen Ecken von Paris eilten sie herbei, um »im Palais zu arbeiten«. Die Sterngalerien gehörten privilegierten Häusern, die für das Recht, wie Prinzessinnen gekleidete Geschöpfe zwischen dem oder jenem Säulenbogen und auf dem entsprechenden Platz im Garten auszustellen, bezahlen mußten, während die Holzgalerien für die Prostitution ein öffentliches Gebiet waren, das ›Palais‹ par excellence , denn unter dem Wort verstand man damals den Tempel der Prostitution. Ein Weib konnte dahin kommen, in Begleitung ihres Opfers wieder gehen und ihn hinführen, wohin sie wollte. Diese Weiber lockten also am Abend eine so beträchtliche Menschenmenge in die Holzgalerien, daß man wie in der Prozession oder auf einem Maskenball Schritt für Schritt gehen mußte. Diese Langsamkeit, die keinen Menschen störte, diente zur Besichtigung. Die Weiber trugen eine Kleidung, die es heute nicht mehr gibt. Die Art, wie sie bis zur Mitte des Rückens und auch vorn sehr tief ausgeschnitten waren, ihre unglaublichen Haartrachten, mit denen jede den Blick auf sich lenken wollte, die eine mit der hohen Haube der Frauen von Caux, die andere auf spanische Art, die dritte mit Locken wie ein Pudel, die

Weitere Kostenlose Bücher