Verlorene Seelen
aufschneiden oder eine ganze Flasche Schlaftabletten schlucken, aber Joey doch nicht.
»Mr. Monroe, ist Joey gefragt worden, ob er weiterhin zu mir kommen möchte?«
»Dr. Court, ich kann Ihnen nur versprechen, daß ich mich um diese Sache kümmern werde.« Jetzt klang er ungehalten und auch ein wenig verärgert. »Ich werde all meinen Einfluß aufbieten, um dafür zu sorgen, daß Joey zumindest zu einer weiteren Sitzung zu Ihnen kommt. Ich glaube, dann werden Sie selbst sehen, daß es ihm viel bessergeht. Sie haben uns sehr geholfen, Frau Doktor, aber wenn wir der Ansicht sind, daß Joey seine Probleme im Griff hat, sollte die Therapie beendet werden.«
»Würden Sie bitte, bevor Sie irgend etwas unternehmen, einen zweiten Fachmann zu Rate ziehen? Vielleicht haben Sie recht, wenn Sie an meinen Worten zweifeln. Ich kann mehrere hervorragende Psychiater in der Gegend empfehlen.«
»Ich werde mit Lois darüber sprechen. Wir werden darüber nachdenken. Vielen Dank, Dr. Court, ich weiß, daß Sie Joey sehr geholfen haben.«
Nicht genug, dachte sie, als er auflegte. Bei weitem nicht genug.
»Dr. Court. Mr. Grossman ist da.«
»In Ordnung, Kate, schicken Sie ihn herein.« Sie nahm Joeys Akte, schloß sie aber nicht weg, sondern legte sie neben sich auf den Schreibtisch.
Es war fast fünf, als der letzte Patient ging. Kate steckte den Kopf zur Tür herein. »Dr.
Court, Mr.
Scott hat
vergessen, den nächsten Termin mit mir auszumachen.«
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»Er braucht auch keinen mehr.«
»Tatsächlich?« Kate lehnte sich entspannt gegen die Tür.
»Da haben Sie gute Arbeit geleistet, Dr. Court.«
»Das bilde ich mir auch ein. Sie können seine
Patientenakte ablegen.«
»Wird mir ein Vergnügen sein.«
»Machen Sie es doch morgen, Kate. Wenn Sie sich beeilen, kommen Sie genau eine Minute vor Dienstschluß hier weg.«
»Na, und ob ich mich beeilen werde. Gute Nacht, Dr. Court.«
»Gute Nacht, Kate.« Als das Telefon klingelte, streckte sie die Hand danach aus. »Ich mach’ das schon. Gehen Sie nach Hause, Kate.« Bevor sie den Hörer abnahm, holte sie tief Luft. »Dr. Court.«
»Hi, Frau Doktor.«
»Ben.« Ihre nervöse Spannung fiel von ihr ab. Im Hintergrund hörte sie das Klingeln von Telefonen, Stimmen und das Geklapper von Schreibmaschinen. »Bist du noch auf dem Revier?«
»Ja. Ich wollte dir nur sagen, daß es noch ein Weilchen dauert.«
»Du klingst müde. Ist etwas passiert?«
Er dachte an den Tag, der hinter ihm lag, und an den Gestank, den er noch immer in der Nase hatte. »Ist ein langer Tag gewesen. Hör mal, soll ich nicht ’ne Pizza mitbringen? In etwa einer Stunde müßten wir hier mit allem fertig sein.«
»Okay, Ben, ich kann gut zuhören.«
»Werde ich mir merken. Fahr direkt nach Hause und schließ die Tür hinter dir ab.«
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»Zu Befehl, Sir.«
»Bis später, Quatschkopf.«
Erst als sie wieder aufgelegt hatte, kam Tess zu Bewußtsein, wie still es in der Praxis war. Normalerweise hätte sie sich darüber gefreut, abends noch eine Stunde für sich zu haben, um den Schreibtisch aufzuräumen oder irgendwelchen Papierkram zu erledigen. Heute empfand sie die Stille als bedrückend. Sich eine Närrin scheltend, nahm sie die Akte Scott vom Schreibtisch, um sie abzulegen. Erfolg war etwas Befriedigendes.
Sie nahm die Akten und Tonbandaufnahmen ihrer
Nachmittagspatienten und schloß sie weg. Joey Higgins’
Akte blieb auf dem Schreibtisch. Obwohl sie wußte, daß sie sich vergeblich abstrampelte, steckte sie die Unterlagen in die Aktentasche, um sie mit nach Hause zu nehmen.
Dreimal ertappte sie sich dabei, wie sie mit pochendem Herzen in Richtung Tür blickte.
Absurd. Entschlossen, sich nicht lächerlich zu machen, ging sie die Termine des nächsten Tages durch. Sie rief sich in Erinnerung, daß sich draußen zwei Polizisten befanden und einer in der Eingangshalle. Ihr konnte überhaupt nichts passieren.
Doch jedesmal, wenn sie draußen im Gang den Fahrstuhl surren hörte, schreckte sie zusammen.
Wenn sie jetzt nach Hause führe, würde das Apartment leer sein. Sie hatte keine Lust, sich der Einsamkeit dort auszusetzen, nicht jetzt, da sie das Apartment mit Ben teilte.
Worauf ließ sie sich da ein? Seufzend sammelte sie den Rest ihrer Sachen zusammen. Sie war bis über beide Ohren in Ben Paris verliebt. Und wie wurde die resolute Frau Dr. Court mit ihrer Verliebtheit fertig? Sehr schlecht, fand sie, während sie zum Wandschrank ging, um ihren 343
Mantel herauszuholen.
Wenn
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