Verlorene Seelen
Frühling gewesen wäre, hätte sie wenigstens einen Vorwand gehabt, um vor sich hin zu träumen und ohne besonderen Grund zu lächeln. Kluge Menschen verlieben sich im Frühling, dachte sie, wenn alles frisch und neu ist und den Eindruck erweckt, als würde es immer so bleiben.
Sie blieb am Fenster stehen. Die Bäume, welche die Straße vor dem Gebäude säumten, waren dunkel und unbelaubt. Das hier und da zu sehende Gras war bereits gelb und verkümmert. Die Menschen gingen in Mäntel gehüllt mit gesenktem Kopf die Straße entlang, um den Wind nicht ins Gesicht zu bekommen. Es ist aber nicht Frühling, dachte sie und kam sich töricht vor. Und alles eilt nach Hause.
Dann sah sie ihn. Er stand völlig reglos in seinem schwarzen Mantel hinter einer Gruppe junger Bäume. Ihr stockte der Atem. Ihre Knie zitterten. Er hielt Ausschau –
wartete und hielt Ausschau. Automatisch wirbelte sie herum, schnappte sich das auf dem Schreibtisch stehende Telefon und machte sich daran, eine Nummer einzugeben.
Sie würde in der Eingangshalle anrufen und der Polizei mitteilen, daß er draußen war und das Gebäude
beobachtete. Dann würde sie nach unten fahren. Das hatte sie sich fest vorgenommen.
Doch als sie sich umdrehte, um noch einmal aus dem Fenster zu sehen, war er verschwunden.
Einen Moment lang stand sie mit dem Telefon in der Hand da, ohne die Nummer weiterzuwählen. Er war verschwunden.
Das war bloß jemand auf dem Heimweg, redete Tess sich ein, vielleicht ein Arzt oder ein Rechtsanwalt oder ein Bankangestellter, der zu Fuß nach Hause ging, um fit zu bleiben. Sie zwang sich, zum Schreibtisch zurückzugehen 344
und ganz ruhig das Telefon wieder hinzustellen. Sie war einfach zu nervös. Da ihre Knie immer noch ziemlich schwach waren, setzte sie sich auf die Kante des Schreibtischs. Schritt für Schritt gewann sie ihre Selbstbeherrschung zurück.
Diagnose: Akute Paranoia.
Verordnete Medizin: Ein heißes Bad und ein gemütlicher Abend mit Ben Paris.
Als sie sich besser fühlte, zog sie den Kaschmirmantel an, nahm ihre Aktentasche an sich und hängte sich die Handtasche über die Schulter. Nachdem sie die Tür ihres Büros abgeschlossen hatte, wandte sie sich um und sah, wie der Knauf der Vorzimmertür sich drehte.
Die Schlüssel entglitten ihren kraftlosen Fingern. Sie wich zur Tür zurück, die sie gerade abgeschlossen hatte.
Die Vorzimmertür öffnete sich einen Spaltbreit. Sie merkte, daß sich ein Schrei in ihre Kehle drängte. Wie erstarrt blickte sie auf die Tür, die noch ein Stück weiter aufging. Hier gab es kein Labyrinth, durch das sie rennen, keinen Ort, an dem sie sich verstecken konnte. Hier war sie ganz auf sich allein gestellt, das wußte sie. Sie holte tief Luft.
»Ist jemand zu Hause?«
»Mein Gott, Frank.« Ihre Knie waren weich wie Butter, als sie sich gegen die Tür ihres Büros lehnte. »Wieso schleichst du denn hier durch die Gänge?«
»Ich habe Licht unter deiner Tür gesehen, als ich gerade zum Fahrstuhl ging.« Er lächelte, entzückt, sie allein anzutreffen. »Erzähl mir bloß nicht, daß du wieder Arbeit mit nach Hause nimmst, Tess.« Er kam herein und schloß aus strategischen Gründen die Vorzimmertür hinter sich.
»Nein, da ist meine schmutzige Wäsche drin!« Sie bückte sich, um die Schlüssel aufzuheben. Ihre Wut auf 345
sich selbst war so groß, daß sie es an ihm ausließ. »Hör mal, Frank, ich habe einen langen Tag hinter mir. Ich bin nicht in Stimmung für deine unbeholfenen
Annäherungsversuche.«
»Aber Tess!« Er riß die Augen auf, und sein Lächeln wurde breiter. »Ich hatte ja keine Ahnung, daß du so … so aggressiv sein kannst.«
»Wenn du mir nicht sofort aus dem Weg gehst, machst du nähere Bekanntschaft mit dem Teppichboden.«
»Wie wär’s mit einem Drink?«
»Herrgott noch mal!« Sie drängte sich an ihm vorbei, packte den frisch gebügelten Ärmel seines Jacketts und zerrte ihn auf den Gang hinaus.
»Oder Dinner bei mir?«
Mit zusammengebissenen Zähnen schaltete Tess das Licht aus, machte die Tür zu und schloß ab. »Frank, warum schreibst du über deine sexuellen
Wahnvorstellungen nicht mal ein Buch? Das bewahrt dich vielleicht davor, in Schwierigkeiten zu geraten.« Sie fegte an ihm vorbei und drückte auf den Knopf des Fahrstuhls.
»Du könntest Kapitel eins sein.«
Sie holte tief Luft, zählte von zehn bis null und stellte überrascht fest, daß sie das in keiner Weise beruhigte. Als die Fahrstuhltür aufging, trat sie in die Kabine,
Weitere Kostenlose Bücher