Vermächtnis der Schwerter Tausendsturm
Wagen fallen. Aber das Wackeln endete abrupt, als der Wagen anhielt. Kurz darauf wurde sein Behältnis äußerst unsanft abgeladen, ein paar Schritt weit über den Boden geschleift und schließlich stehen gelassen. Am merklichen Schwanken des Untergrunds konnte Rai feststellen, dass er sich nun bereits in der Gondel befand und damit kurz vor dem Ziel.
Unerwartet stieg Angst in ihm hoch. Die grapschenden Hände der Raffer kamen ihm in Erinnerung, die sie bei ihrer Ankunft im Bergwerk in Empfang genommen hatten. Der albtraumhafte Schrecken dieser ersten Augenblicke in der Mine von Andobras weckte in dem jungen Dieb plötzlich Zweifel an seinem Plan, in diese freudlose Tiefe zurückzukehren. Ulag wartete dort nur darauf, endlich seine Rachegelüste an ihm zu stillen. Diesmal würde er sich nicht mit einigen Schlägen zufrieden geben. Er würde sich Zeit nehmen, dem kleinen Dieb das gesamte Ausmaß seiner Grausamkeit unter Beweis zu stellen. Rai verspürte mit einem Mal den übermächtigen Drang, den Korb augenblicklich zu verlassen. Nur die Gefahr, sogleich von den Gardisten aufgegriffen zu werden, hielt ihn zurück. Hätte die Möglichkeit bestanden, in diesem Moment noch umzukehren, er hätte es getan. Fort waren all die heroischen Gedankenspiele, in denen er sich als Retter der Minensklaven gesehen hatte. Selbst seine freundschaftliche Verbundenheit Barat gegenüber war hinweggefegt worden von der ungebremsten Panik, die ihn so heimtückisch überfallen hatte. Sein gesamter Körper begann zu zittern, und Schweiß stand auf seiner Stirn. Er wollte nicht wieder zurück zu diesem finsteren Ort des Grauens. Wäre er nur bei den Waldleuten geblieben! In seiner maßlosen Arroganz hatte er diese sogar noch für feige gehalten. Dabei waren sie nur klug genug gewesen, sich ihre Furcht einzugestehen, während er sich seiner Gefühle erst bewusst wurde, als es zu spät war. Es hatte keinen Zweck. Er musste versuchen, sich zu beruhigen.
Aber, das wusste Rai aus Erfahrung, eine geradezu charakteristische Eigenart der Angst war, dass sie sich nicht auf ein vernünftiges Maß beschränken ließ. Sie kam wie eine Flut, riss alles mit sich und ging wieder, ohne dass darin ein echter Sinn erkennbar war. Natürlich stellte die Aufregung vor einem gefährlichen Unternehmen ein nützliches Instrument dar, um die Sinne zu schärfen. Aber warum diese Steigerung des oftmals hilfreichen Gefühls hin zu nackter, unkontrollierbarer, vernunftloser Angst? Wofür war dieser Gemütszustand gut? Er bewirkte doch genau das Gegenteil von dem, was eigentlich in einer bevorstehenden Gefahr vonnöten war! Angst erwies sich weder als guter Ratgeber noch als wackerer Streiter. Angst machte Verbündete zu Feinden und Freunde zu Verrätern – Rai hatte das in den Straßen von Tuet schon oft genug miterlebt. Angst kannte keine Gnade, wuchs umso mehr, je weniger man sich ihrer erwehren konnte, bis sie schließlich selbst zu einer Gefahr wurde. Es war ein Gefühl, so mächtig wie Liebe oder Hass, nur schneller. Wenn sie über ihr Opfer herfiel, vermochte es sich ihr nicht mehr zu entziehen – so wie es jetzt Rai erging. Er konnte nur warten und hoffen, dass die Angst ihn bald wieder freigeben würde.
Das Quietschen des Seilzugs war ein untrügliches Zeichen dafür, dass die Transportgondel hinabgelassen wurde. In sanften Pendelbewegungen schwebte die Fracht immer tiefer hinein in den Felsenspalt. Unendlich erschien die Strecke bis hinab auf den Höhlengrund. Das Herz schlug Rai in den Ohren wie eine Pauke. Seine Lungen pumpten hektisch, als wäre er auf der Flucht. Schwarze Punkte begannen, vor seinen Augen zu tanzen. Ulag würde ihn vernichten!
Mit einem sanften Ruck setzte der Korb endlich auf. Rai wartete gelähmt darauf, dass ihn gierige Hände aus seinem Versteck hervorzerren würden, aber zunächst geschah nichts. Gedämpft hörte er die Stimmen von Ulags Handlangem, die offenbar sofort damit begannen, die Vorratsbehälter aus dem Förderkorb zu schaffen. Schließlich wurde auch die Tonne mit Rai darin angehoben, aber bereits nach wenigen Schritten wieder abgesetzt. Dann entfernte jemand den Deckel.
Unter normalen Umständen hätte Rai abgewartet und darauf spekuliert, dass er bei einer flüchtigen Inspektion der Waren unter all den Broten nicht entdeckt werden würde.
Doch es waren alles andere als normale Umstände, denn der erfahrene Tileter Straßendieb hatte schlichtweg Todesangst. Deshalb reagierte er auf die einzige Art, die sein in
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