Vermächtnis des Schweigens (German Edition)
hier tatsächlich Trost gefunden hatte? Zum ersten Mal in meinem Leben musste ich nicht perfekt sein, keine Zukunft für mich planen. Hier im Gefängnis war alles geregelt. Zehn lange Jahre, in denen ich einfach nur sein konnte.
„Wir müssen uns zusammensetzen und durchgehen, was der Bewährungsausschuss dich vermutlich fragen wird. Das Wichtigste ist, dass du deiner Reue über das, was geschehen ist, Ausdruck verleihst.“
„Reue?“, fragte ich.
„Reue, Bedauern“, erklärte Devin angespannt. „Es ist wichtig, zu sagen, dass dir leidtut, was du getan hast. Wenn du das nicht tust, werden sie dir definitiv keine Bewährung geben. Kannst du das? Kannst du sagen, dass es dir leidtut, ein neugeborenes Baby in den Fluss geworfen zu haben?“, wollte sie wissen. „Es tut dir doch leid, oder?“
„Ja“, gab ich endlich zu. „Ich kann sagen, dass es mir leidtut.“ Und das tat ich dann auch. Ich saß vor der Bewährungskommission, die meinen Fall noch einmal anschaute. Sie lobten mich für mein vorbildliches Verhalten im Gefängnis, meine Arbeit in der Cafeteria, die Tatsache, dass ich meinen Highschool-Abschluss gemacht und Punkte für die Aufnahmeprüfung des Colleges gesammelt hatte. Erwartungsvoll schauten sie mich an. „Es tut mir leid“, sagte ich. „Es tut mir leid, dass ich meinem Baby wehgetan habe und dass es gestorben ist. Es war ein Fehler. Ein fürchterlicher Fehler, und ich wünschte, ich könnte das alles rückgängig machen.“
Meine Eltern nahmen an der Anhörung nicht teil, und ich machte mir Gedanken, dass ihre Abwesenheit der Kommission einen schlechten Eindruck vermitteln würde. Ganz nach dem Motto, wenn nicht einmal die Eltern kommen, um sie zu unterstützen,können wir keine Empfehlung für eine vorzeitige Beendigung der Haftstrafe aussprechen. Aber Devin beruhigte mich und sagte, dass ich mir keine Sorgen machen sollte. Meine Großmutter war anwesend, und meine Chancen auf eine frühzeitige Entlassung stünden hervorragend. „Es geht nur darum, was du während deiner Zeit im Gefängnis unternommen hast, um es wiedergutzumachen. Wie sehr du versucht hast, ein besserer Mensch zu werden.“ Devin hatte recht. Wie immer. Die Bewährungskommission plädierte einstimmig für meine Entlassung.
Meine Zimmergenossin Bea, eine sich im Heilungsprozess befindende Heroinabhängige, ist gerade beim Abendessen. Wir sitzen nur zu fünft um den Tisch herum. Der Rest der Bewohner ist bei der Arbeit oder bei sonstigen genehmigten Aktivitäten. Ich will etwas über die verschiedenen Jobs der Frauen erfahren – ich kann es kaum erwarten, endlich mein eigenes Geld zu verdienen –, aber ich zögere, sie zu fragen oder überhaupt zu sprechen. Alle sehen mich an, als hätte ich die Pest oder so. Abgesehen von Bea. Sie scheint sich an meiner Vergangenheit nicht zu stören. Entweder das oder sie hat die schäbigen Einzelheiten noch nicht gehört. Bea hat das dünne, pockennarbige Gesicht einer Süchtigen und harte schwarze Augen, die wirken, als hätten sie schon die Hölle oder Schlimmeres gesehen. Sie hat außerdem dünne, starke Arme, die aussehen, als könnten sie aus jeder von uns problemlos die Scheiße rausprügeln, was zur Folge hat, dass alle Bea den Platz geben, den sie braucht. Nicht, dass Gewalt jedweder Art im Gertrude House erlaubt wäre. Bea erzählt trotzdem fröhlich von ihrer ersten Nacht hier.
„Zwei Ladies sind miteinander in Streit darüber geraten, wer als Nächste das Telefon benutzen darf. Ich meine, die Liste zum Eintragen hängt da ja nicht umsonst. Doch diese Frau, die wegen Unterschlagung im Gefängnis gesessen hat, schlägt der anderen mit dem Telefon einmal quer durchs Gesicht.“ Bea lacht bei der Erinnerung. „Blut und Zähne flogen durch die Luft. Erinnerst du dich noch, Olene?“, fragt Bea und spießt mit ihrer Gabel ein paar grüne Bohnen auf.
„Ja“, gibt Olene zurück und lächelt schief. „Kein besonders stolzer Moment für uns. Wir mussten die Polizei rufen.“
„Ja, und weil ich neu im Haus war, musste ich das Blut und die Zähne wegwischen.“ Bei der Erinnerung daran erschaudert Bea.
Nach dem Essen helfe ich, das Geschirr zu spülen, und versuche danach, meine Eltern und noch einmal Brynn zu erreichen. Niemand geht ran. Wie betäubt sitze ich auf dem Sofa, das Telefon in der Hand, und lausche dem Freizeichen, bis Olene das Zimmer betritt, mir sanft den Hörer aus der Hand nimmt und mir sagt, dass ich bis sieben Uhr Zeit für mich alleine hätte; dann
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