Vermächtnis
überstanden habe, und ich lege dar, was ich daraus über eine weitverbreitete Einstellung traditioneller Völker gelernt habe, die ich bewundere und als »konstruktive Paranoia« bezeichne. Mit diesem paradoxen Ausdruck meine ich, dass man regelmäßig über die Bedeutung kleiner Ereignisse oder Anzeichen nachdenkt, die in jedem Einzelfall nur ein geringes Risiko bergen, sich aber im Laufe eines Lebens Tausende von Malen wiederholen und sich deshalb letztlich als verhängnisvoll erweisen werden, wenn man sie ignoriert. »Unfälle« ereignen sich nicht einfach zufällig oder weil man Pech hat: Traditionell geht man davon aus, dass alles aus einem Grund geschieht, so dass man aufmerksam auf mögliche Ursachen achten und vorsichtig sein muss. Das nachfolgende Kapitel 8 beschreibt, welche Gefahren die traditionelle Lebensweise mit sich bringt und auf welch vielfältige Weise die Menschen damit umgehen. Wie sich herausstellt, sind unsere Wahrnehmung von Gefahren und unsere Reaktion darauf in mehrfacher Hinsicht systematisch irrational.
Im abschließenden Teil 5 handeln drei Kapitel von drei Themen, die im Leben der Menschen eine zentrale Stellung einnehmen und sich in unserer Zeit rapide wandeln: Religion, Sprachenvielfalt und Gesundheit. Das Kapitel 9 über das ausschließlich menschliche Phänomen der Religion ergibt sich unmittelbar aus den Kapiteln 7 und 8 , in denen Gefahren behandelt werden: Unsere traditionelle, ständige Suche nach den Ursachen von Gefahren dürfte zur Entstehung der Religion beigetragen haben. Da es Religionen in nahezu allen Gesellschaften der Menschen gibt, liegt die Vermutung nahe, dass sie unabhängig davon, ob ihre Behauptungen wahr sind, wichtige Funktionen erfüllen. Aber die Religion hat unterschiedlichen Zwecken gedient, deren relative Bedeutung sich mit der Evolution der Gesellschaften verändert hat. Es ist interessant, darüber zu spekulieren, welche Funktionen der Religion in den kommenden Jahrzehnten am wichtigsten sein werden.
Sprache (Kapitel 10 ) gibt es wie die Religion ausschließlich bei Menschen: Oftmals gilt sie sogar als das wichtigste Attribut, das den Menschen von (anderen) Tieren unterscheidet. Im Mittel sprechen zwar in den meisten kleinen Gesellschaften von Jägern und Sammlern nur mehrere hundert bis wenige tausend Menschen eine bestimmte Sprache, die Mitglieder vieler derartiger Gesellschaften sind aber regelmäßig mehrsprachig. Die modernen Amerikaner glauben häufig, man solle die Mehrsprachigkeit zu verhindern versuchen, weil sie angeblich den Spracherwerb von Kindern und die Eingliederung von Immigranten erschwert. Arbeiten aus jüngerer Zeit lassen aber darauf schließen, dass mehrsprachige Menschen in Wirklichkeit einen lebenslangen kognitiven Vorteil haben. Andererseits verschwinden Sprachen heute aber so rapide, dass 95 Prozent der Sprachen auf der Welt innerhalb der nächsten 100 Jahre ausgestorben oder zum Aussterben verurteilt sein werden, wenn sich der derzeitige Trend fortsetzt. Welche Konsequenzen sich aus dieser unbezweifelbaren Tatsache ergeben, ist ebenso umstritten wie die Folgerungen aus der Mehrsprachigkeit: Viele Menschen würden es begrüßen, wenn es in der Welt nur noch wenige, weitverbreitete Sprachen gäbe, andere weisen darauf hin, welche Vorteile die sprachliche Vielfalt nicht nur dem Einzelnen, sondern auch den Gesellschaften verschafft.
Das letzte Kapitel (Kapitel 11 ) ist für uns heute von der größten praktischen Bedeutung. Als Bürger moderner Staaten sterben wir meist an nicht übertragbaren Krankheiten wie Diabetes, Bluthochdruck, Schlaganfall, Herzinfarkt, verschiedenen Krebsformen und anderen, die bei traditionellen Völkern selten oder unbekannt sind. Dennoch ziehen auch sie sich diese Krankheiten häufig innerhalb von zehn oder 20 Jahren zu, nachdem sie sich eine westliche Lebensweise zu eigen gemacht haben. Offensichtlich bringt irgendetwas an unserem Lebensstil solche Krankheiten mit sich; die Gefahr, an diesen häufigsten Todesursachen zu sterben, könnten wir verringern, wenn wir die fraglichen Risikofaktoren der Lebensweise so gering wie möglich halten. Diese düstere Realität mache ich an zwei Beispielen deutlich: Bluthochdruck und Diabetes des Typs 2 . An beiden Krankheiten sind Gene beteiligt, die für uns unter den Bedingungen einer traditionellen Lebensweise von Vorteil gewesen sein müssen, heute aber beim westlichen Lebensstil tödlich geworden sind. Viele moderne Menschen haben bereits
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