Vermiss mein nicht
Kiefer sich versonnen von rechts nach links bewegte.
Dann schnaubte sie plötzlich und lachte laut auf.
Beleidigt lehnte Jack sich zurück und schlug die Arme übereinander. Rachel hörte auf zu trinken und betrachtete ihre lachende Mutter, die sich inzwischen die Tränen aus den Augen wischen musste. Auch Nathan hörte auf, seine Bauklötze aufeinander zu stapeln, erhob sich, grinste breit und begann dann ebenfalls zu lachen, klatschte mit seinen feisten Händchen und schüttelte sich vor Vergnügen. Auf einmal merkte Jack, wie es in seinen eigenen Mundwinkeln zuckte, und dann lachte er auch schon, hilflos und hemmungslos. Es tat gut, einmal loszulassen, auch wenn es nur für einen Moment war. Als sich alle wieder einigermaßen gefasst hatten, rieb Judith Rachel sanft den Rücken, ein Anblick, der Jack so beruhigte, dass ihm fast die Augen zugefallen wären.
»Hör mal, Judith, vielleicht hat Graham recht. Vielleicht will sie wirklich einfach eine Weile allein sein. Vielleicht hat sie gedacht, rutscht mir doch alle den Buckel runter, hat ihr Auto, das Telefon, den Terminkalender, ihr ganzes Leben, einfach stehen- und liegenlassen und sich davongemacht. Vielleicht ist sie wirklich verrückt. Aber
ich
werde sie finden,
sie
wird Donal finden, und
dann
kann sie meinetwegen endgültig verschwinden.
Dann
lass ich sie gehen. Vorher nicht.«
»Glaubst du wirklich, diese Frau kann Donal finden?«, fragte Judith.
»Ja, das hat sie jedenfalls gemeint.«
»Und meinst du das auch?«
Er nickte.
»Wenn du sie findest, dann hilfst du ihr, Donal zu finden«, konstatierte sie, tief in Gedanken. »Weißt du, Willie und ich haben uns gestern Abend mit den Kids das Fotoalbum angesehen, und Katie hat auf Donal gezeigt und gefragt, wer das ist.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Weder Katie noch Nathan erinnern sich an ihn, und Rachel …« Sie sah auf das Baby in ihrem Arm. »Rachel weiß nicht mal, dass er existiert hat. Das Leben geht einfach weiter ohne ihn, und er verpasst alles.« Traurig schüttelte sie den Kopf.
Jack antwortete nicht, und wahrscheinlich gab es auch nichts zu sagen. Ihm gingen Tag für Tag die gleichen Gedanken durch den Kopf, die seine Schwester jetzt geäußert hatte.
»Was macht dich so sicher, dass eine Frau, die du nicht kennst und von der du so gut wie nichts weißt, die Fähigkeit hat, Donal zu finden?«
»Blindes Vertrauen«, grinste er.
»Seit wann hast du denn so was?«
»Seit ich mit Sandy am Telefon geredet habe«, antwortete er ernst.
»Es war also nichts …« Judith unterbrach sich, stellte die Frage dann aber doch: »Zwischen euch ist nichts passiert, oder?«
»Es ist schon was passiert, aber es war nichts.«
»Wie kann das sein?«
Jack seufzte tief und beschloss, der Frage auszuweichen. »Gloria weiß nichts von Sandy. Es gibt ja auch nichts, was sie wissen müsste, aber ich möchte nicht, dass sie oder der Rest der Familie etwas von der Agentur erfährt.«
Offensichtlich war Judith darüber nicht glücklich.
»Bitte, Jude«, bettelte er und ergriff ihre Hand. »Ich möchte nicht, dass die anderen das nochmal durchmachen müssen, ich möchte das alleine durchziehen. Ich muss.«
»Okay, okay«, sie machte sich los. »Was willst du jetzt machen?«
»Ganz einfach«, antwortete er, während er die Akte, den Terminkalender und das Handy wieder in seine Tasche packte. »Ich mache mich auf die Suche nach ihr.«
Fünfundzwanzig
Ich war sechzehn, als ich wieder mal auf dem kaputten Samtsessel in Mr. Burtons Kabuff saß, in dem sich seit dem Tag, als ich zum ersten Mal hier gewesen war, nichts verändert hatte, außer vielleicht, dass noch mehr von der Polsterfüllung des Sessels herausgequollen war. Ich starrte auf die gleichen Plakate, die Wände waren unordentlich gestrichen, an manchen Stellen hatte das Weiß nicht gedeckt, an anderen pappten dicke Farbklumpen. In diesem engen Kabuff gab es nur alles oder nichts. Ein paar uralte blaue Reißnägel steckten in der Wand, und an ihnen hingen die Ecken von noch älteren Plakaten. Unwillkürlich stellte ich mir vor, dass es irgendwo in der Schule eine Abstellkammer gab, in der sich lauter eckenlose Plakate stapelten.
»Woran denkst du?«, fragte Mr. Burton angelegentlich.
»An Plakate, denen die Ecken fehlen«, antwortete ich.
»Oh,
die
olle Kamelle!«, meinte er und nickte. »Wie war die Woche?«
»Beschissen.«
»Warum beschissen?«
»Es ist nichts Aufregendes passiert.«
»Was hast du gemacht?«
»Schule, Essen,
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