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Veronica beschließt zu sterben

Veronica beschließt zu sterben

Titel: Veronica beschließt zu sterben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulo Coelho
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konnte, die er gerade entwickelte.
    Doch Veronika sagte kein Wort. >Vielleicht ist sie ja schon
zu sehr mit Vitriol vergiftet<, dachte Dr. Igor, während er
sich entschloß, das Schweigen zu brechen, das bedrückend,
irritierend, unerträglich wurde.
    »Mir scheint, Sie spielen gern Klavier«, sagte er und versuchte dabei so beiläufig wie möglich zu klingen.
»Und die Verrückten hören gern zu. Gestern hatte ich
einen, der war völlig hin und weg.«
»Eduard. Er hat jemandem gesagt, er habe es wunderbar
gefunden. Wer weiß, vielleicht ißt er ja wieder wie normale
Menschen.«
»Ein Schizophrener, der Musik mag? Und das den anderen
erzählt?«
»Ja. Und ich wette, daß Sie keine Ahnung haben, was Sie
da gerade sagen.«
Dieser Arzt, der mit seinen schwarz gefärbten Haaren
eher wie ein Patient wirkte, hatte recht. Veronika hatte das
Wort häufig gehört, wußte aber nicht, was es bedeutete.
»Kann das geheilt werden?« fragte sie und hätte gern
mehr über Schizophrenie erfahren.
»Man kann es unter Kontrolle bringen. Noch weiß man
nicht genau, was in der Welt der Verrückten geschieht. Alles ist
neu, und die Therapie ändert sich alle zehn Jahre. Ein
Schizophrener ist jemand, der eine natürliche Neigung dazu
hat, sich aus dieser Welt zu entfernen, bis irgend etwas - das je
nach Fall schwerwiegend oder nebensächlich sein kann dazu führt, daß er sich eine Realität nur für sich allein
schafft. Der Fall kann sich bis zu vollkommener Abwesenheit
entwickeln. Das nennen wir dann Katatonie. Oder es gibt
eine Besserung, die dem Patienten erlaubt zu arbeiten, ein
praktisch normales Leben zu führen. Das hängt allein von
der Umwelt ab.«
»Eine Realität nur für sich allein schaffen«, wiederholte
Veronika. »Was ist denn überhaupt Realität?«
»Sie ist das, von dem die meisten glauben, daß sie so sein
sollte. Nicht unbedingt besser, nicht logischer, doch den
kollektiven Wünschen angepaßt. Sehen Sie, was ich da um
den Hals trage?«
»Eine Krawatte.«
»Sehr gut. Ihre Antwort ist logisch, kohärent, die eines
ganz normalen Menschen: eine Krawatte!
Ein Verrückter würde jedoch sagen, daß ich ein buntes,
lächerliches, nutzloses, auf komplizierte Weise geschlunge-
nes Stück Stoff um den Hals trage, das die Beweglichkeit
des Kopfes einschränkt und uns zwingt, tiefer zu atmen, damit
Luft in die Lungen gelangt. Wenn ich in der Nähe eines
Ventilators bin und nicht aufpasse, kann dieses Stück Stoff
mich erwürgen.
Wenn ein Verückter mich fragt, wozu eine Krawatte gut
ist, muß ich ihm antworten: zu überhaupt nichts. Nicht
einmal zum Verschönern, weil sie heute zum Symbol der
Versklavung, der Macht, der Distanz geworden ist. Die
Nützlichkeit der Krawatte besteht darin, nach Hause zu
kommen und sie abzunehmen und das Gefühl zu genießen,
daß wir uns von etwas befreit haben, von dem wir nicht einmal
wissen, was es ist.
Doch rechtfertigt dieses Gefühl der Erleichterung die
Krawatte? Nein. Dennoch wird, wenn ich einen Verrückten
und einen normalen Menschen frage, was das ist, derjenige
als gesund erachtet werden, der mir antwortet: eine
Krawatte. Gleichgültig, wer es richtig sieht oder wer recht
hat.«
»Das heißt, Sie haben aus meiner Antwort geschlossen,
daß ich nicht verrückt bin, denn ich habe den richtigen Namen
dieses bunten Stücks Stoff angegeben.«
    >Nein, du bist nicht verrückt<, dachte Dr. Igor, der auf
diesem Gebiet eine Autorität war und an dessen Sprechzimmerwänden mehrere Diplome hingen. Sich gegen das
eigene Leben vergehen, das war etwas Menschliches. Er
kannte viele Menschen, die das getan hatten, und dennoch
weiterhin dort draußen lebten, Unschuld und Normalität
vortäuschten, nur weil sie nicht die skandalöse Methode des
Selbstmordes gewählt hatten. Sie töteten sich ganz allmählich, indem sie sich mit dem vergifteten, das Dr. Igor Vitriol
nannte.
    Das Vitriol war eine giftige Substanz, deren Symptome er
in Gesprächen mit Männern und Frauen erkannt hatte. Jetzt
schrieb er über diese Frau eine Abhandlung, die er der
Naturwissenschaftlichen Akademie von Slowenien vorlegen
wollte. Das war ein wichtiger Schritt weiter auf dem
Gebiet der Geisteskrankheit, seit Dr. Pinel den Kranken die
Ketten hatte abnehmen lassen und die Welt der Medizin mit
der Aussage verblüffte, einige von ihnen könnten geheilt
werden.
    Genau wie die Libido - eine für den Sexualtrieb verantwortliche chemische Reaktion, die Dr. Freud zwar erkannt
hatte, jedoch kein

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