Veronica beschließt zu sterben
»Ich bin auch nicht daran interessiert, hier rauszugehen. Ich werde keine Anordnung, keine
Regel befolgen, nicht tun, wozu Sie mich zwingen.«
Die Krankenschwester schien diese Art Reaktion gewohnt zu sein
»Dann müssen wir Ihnen leider ein Beruhigungsmittel
geben.«
»Ich muß mit dir reden«, sagte Eduard. »Laß dir die
Spritze geben.«
Veronika schob den Pulloverärmel hoch, und die Krankenschwester spritzte ihr das Mittel.
»Braves Mädchen«, sagte sie. »Hier ist es so düster.
Warum gehen Sie nicht draußen etwas spazieren?«
»Schämst du dich noch wegen gestern abend?« fragte
Eduard, während sie durch den Garten gingen.
»Erst habe ich mich geschämt. Jetzt bin ich stolz darauf.
Ich möchte etwas über die Visionen des Paradieses wissen.
Warum war ich kurz davor, eine zu sehen?«
»Dazu muß ich weit über die Gebäude von Villete hinweg
in die Vergangenheit zurückschauen.«
»Tu das!«
Eduard blickte nicht auf die Mauern der Krankenstation
oder in den Garten, in dem die Insassen schweigend herumspazierten, sondern zurück in die Vergangenheit zu einer
Straße auf einem anderen Kontinent zu einem Ort, an dem es
entweder viel regnete oder überhaupt nicht.
Eduard konnte den erdigen Geruch seiner früheren Heimat
förmlich riechen - es war Trockenzeit, und der Staub drang
in seine Nase, und er freute sich, weil der Geruch ihn belebte.
Er war wieder siebzehn Jahre alt und mit seinem
importierten Fahrrad auf dem Heimweg von der Amerikanischen Schule, die auch alle anderen Diplomatenkinder in
Brasilia besuchten.
Er haßte Brasilia, doch er liebte die Brasilianer. Sein Vater
war zwei Jahre zuvor zum Botschafter Jugoslawiens ernannt
worden, zu einer Zeit, als niemand an die blutige Teilung
des Landes dachte. Milosevic war noch an der Macht. Die
Menschen lebten mit ihren Gegensätzen und versuchten,
jenseits der regionalen Konflikte das Zusammenleben
harmonisch zu gestalten.
Der erste Posten seines Vaters war ausgerechnet Brasilia.
Eduard hatte von Stranden, von Karneval, Fußballspielen,
Musik geträumt, doch er landete in dieser Hauptstadt fern
der Küste, die nur für Politiker, Bürokraten, Diplomaten und
deren Familien geschaffen worden war, die sich dort etwas
verloren vorkamen.
Eduard haßte das Leben dort. Er vergrub sich ins Lernen,
versuchte erfolglos, Freundschaft mit seinen Klassenkameraden zu schließen. Versuchte ebenso erfolglos, sich für Autos,
Markenturnschuhe, Designerklamotten zu interessieren, die
einzigen Gesprächsthemen unter den Jugendlichen.
Hin und wieder gab es Parties, bei denen sich die Jungen
auf der einen Seite des Raumes betranken und die Mädchen
auf der anderen Seite so taten, als wären sie Luft. Drogen
waren immer in Umlauf, und Eduard hatte praktisch alle
schon ausprobiert. Doch keine hatte ihm zugesagt. Entweder
wurde er davon zu aufgedreht oder zu schläfrig und verlor
das Interesse an dem, was um ihn herum geschah.
Seine Eltern machten sich Sorgen. So konnte es nicht
weitergehen, schließlich sollte Eduard in die Fußstapfen seines
Vaters treten und ebenfalls Diplomat werden. Doch obwohl
Eduard fast alle dazu notwendigen Talente besaß Lerneifer, guten künstlerischen Geschmack, Sprachbegabung, Interesse an Politik -, fehlte ihm die unabdingbare
Grundbegabung eines zukünftigen Diplomaten, nämlich
Kontaktfreudigkeit.
Seine Eltern nahmen ihn mit zu festlichen Anlässen, ihr
Haus stand seinen Schulkameraden offen, er erhielt ein gutes
Taschengeld. Dennoch brachte Eduard selten jemanden mit.
Eines Tages fragte seine Mutter ihn, weshalb er nie Freunde
zum Essen mitbrachte.
»Ich kenne alle Turnschuhmarken, die Namen aller Mädchen, die man leicht ins Bett kriegt. Weiter haben wir uns
nichts zu sagen.«
Bis diese Brasilianerin auftauchte. Der Botschafter und
seine Frau waren beruhigt, als ihr Sohn anfing auszugehen,
spät nach Hause zu kommen. Niemand wußte genau, woher
sie gekommen war, doch eines Abends brachte sie Eduard
zum Essen mit. Das Mädchen war wohlerzogen, und sie
waren zufrieden. Ihr Junge schien endlich kontaktfreudiger
zu werden. Außerdem enthob sie dieses Mädchen
einer unausgesprochenen großen Sorge: Eduard war nicht
homosexuell.
Sie nahmen Maria mit offenen Armen auf, wie künftige
Schwiegereltern, obgleich sie wußten, daß Eduards Vater in
zwei Jahren versetzt würde, und obwohl eine Schwiegertochter aus einem so exotischen Land für sie nicht in Frage
kam. Ihrer Vorstellung nach sollte ihr Sohn ein
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