Verr�ter wie wir
Natascha heraus, und sie griff nach Gails Hand, aber dann brachte sie den Satz nicht zu Ende.
»Wir warten erst mal«, sagte Gail mit fester Stimme zu Nataschas gesenktem Kopf. »Wir haben Zeit. Wir legen unsere Gefühle auf Eis, wir lassen es uns gutgehen, und wirwarten. Mehr müssen wir vorerst nicht machen, weder du noch ich. Hörst du?«
Nicken.
»Dann setz dich gerade hin. Lass deine Hand ruhig hier. Hör einfach zu. Noch ein paar Tage, dann seid ihr in England. Ich weiß nicht, ob deine Brüder das wissen, aber sie wissen, dass es ein Überraschungsurlaub wird und dass es jeden Tag losgehen kann. Davor macht ihr noch kurz in Wengen Station. Und in England suchen wir dir eine richtig gute Frauenärztin – meine –, und dann schauen wir, wie du dich fühlst, und dann entscheidest du. In Ordnung?«
Nicken.
»Und bis dahin verschwenden wir keinen Gedanken an die Sache. Wir löschen sie einfach aus unserem Bewusstsein. Du läufst nicht mehr in diesem albernen Schlabberzeug rum« – sie zupfte sie liebevoll am Ärmel –, »du zeigst wieder ein bisschen was von deiner tollen Figur. Man sieht nichts, garantiert. Versprichst du mir das?«
Ja.
»Alle Entscheidungen können warten bis England. Es sind keine schlimmen Entscheidungen, sondern einfach vernünftige. Und du triffst sie in aller Ruhe. Wenn du in England bist, nicht vorher. Deinem Vater zuliebe, und dir selbst zuliebe auch. Ja?«
»Ja.«
»Noch mal.«
»Ja.«
Hätte Gail genauso geredet, wenn Perry ihr nicht zu verstehen gegeben hätte, dass Luke es so wollte – dass dies der denkbar schlechteste Zeitpunkt sei, um Dima mit einer niederschmetternden Nachricht zu kommen?
Glücklicherweise ja. Sie hätte dasselbe gesagt, Wort für Wort, in voller Aufrichtigkeit. Schließlich sprach sie aus Erfahrung. Sie kannte das Gefühl. Und all das betete sie sich gerade erneut vor, als sie in Interlaken Ost nach Lauterbrunnenund Wengen umstiegen und sie plötzlich merkte, dass ein Schweizer Polizist in fescher Sommeruniform den leeren Bahnsteig entlang auf sie zukam, an seiner Seite ein farblos aussehender Mann in grauem Anzug und gewichsten braunen Schuhen, und dass der Polizist die Art von bedauerndem Lächeln im Gesicht trug, die einem in zivilisierten Ländern ankündigt, dass man bald nichts mehr zu lachen haben wird.
»Sie sprechen Englisch?«
»Woran sehen Sie das?« Sie erwiderte sein Lächeln.
»Vielleicht an Ihrem Teint?«, gab er zurück, was ihr ziemlich gewagt für einen braven Schweizer Gendarmen schien. »Aber die junge Dame ist nicht englisch« – dies mit einem raschen Blick auf Nataschas schwarzes Haar und leicht asiatische Züge.
»Könnte sie aber ohne weiteres sein. Wir kommen doch heutzutage alle aus dem Schmelztiegel«, entgegnete Gail in dem gleichen flotten Ton.
»Haben Sie britische Pässe?«
»Ich ja.«
Der farblose Mann lächelte ebenfalls, stellte sie beklommen fest. Und auch sein Englisch war ein bisschen zu gut.
»Bundesamt für Migration«, verkündete er. »Wir führen Stichproben nach dem Zufallsprinzip durch. Mit den offenen Grenzen, die wir heute haben, stoßen wir leider immer wieder auf gewisse Personen, die Aufenthaltsgenehmigungen bräuchten, aber keine besitzen. Nicht viele, aber einige.«
Jetzt wieder der Uniformierte:
»Ihre Fahrkarten und Pässe, wenn ich bitten darf. Sie haben doch nichts dagegen? Wenn ja, dann würden wir Sie auf die Polizeiwache bitten und die Kontrollen dort vornehmen.«
»Was sollten wir denn dagegen haben, oder, Natascha? Wirwünschten nur, alle Polizisten wären so höflich wie Sie«, sagte Gail munter.
Und sie kramte ihren Pass und die Fahrkarten aus ihrer Handtasche hervor und reichte sie dem Uniformierten, der sie mit jener übertriebenen Gründlichkeit studierte, die man Polizisten in aller Welt antrainiert, um unbescholtene Bürger ins Schwitzen zu bringen. Der graue Anzug sah über die Uniformschulter, nahm dann den Ausweis an sich und exerzierte das Ganze noch einmal von vorn durch, bevor er ihn Gail wieder aushändigte und sein Lächeln auf Natascha richtete, die ihren Pass schon gezückt hatte.
Und was der graue Anzug nun machte, war laut Gails späterem Bericht an Ollie, Perry und Luke entweder ein Zeichen von Inkompetenz oder sehr schlau: Er verhielt sich, als wäre der Pass einer russischen Minderjährigen für ihn von geringerem Interesse als der einer britischen Erwachsenen. Er schlug die Seite mit den Einreisevisa auf, blätterte zu ihrem Photo, verglich es mit
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