Verr�ter wie wir
cetera. Wenn’s recht ist, besorge also ich das Reden, falls wir kontrolliert werden. Nicht dass ich von hier wäre, aber der Jeep ist es, und sein Besitzer hat mich instruiert.«
Welcher Besitzer und was für Instruktionen wusste nur Ollie allein. Ein Künstler der Hintertür hält sich bedeckt, was seine Quellen angeht.
* * *
Eineschmale Teerstraße führte hinauf in die Schwärze des Bergmassivs. Ein Scheinwerferpaar kam ihnen von oben entgegen, stoppte, zog sich in die Bäume zurück: ein Baufahrzeug, unbeladen.
»Bergauf hat Vorfahrt«, murmelte Ollie beifällig. »Das ist Vorschrift hier.«
Ein einzelner Polizeibeamter versperrte ihnen den Weg. Ollie bremste, damit er die dreieckige gelbe Vignette an der Windschutzscheibe des Suzuki lesen konnte. Der Polizist trat zur Seite. Ollie dankte mit lässigem Heben der Hand. Sie fuhren an einem Grüppchen niedriger, hell erleuchteter Chalets vorbei. Holzrauch mischte sich mit Tannenduft. Auf einem Schild stand BRANDEGG . Die Straße ging in einen unbefestigten Waldweg über. Wasserbäche strömten ihnen entgegen. Ollie stellte die Scheinwerfer an und schaltete. Das Dröhnen des Motors wurde höher, jammeriger. Die Fahrspur war von schweren Reifen zerfurcht, und der Suzuki war schlecht gefedert. Luke auf seiner Rückbank zwischen den Taschen musste sich links und rechts abstemmen, während der Wagen ruckte und sprang. Vor ihm ragte die vermummte Gestalt Dimas mit der Wollmütze auf; die Decke um seine Schultern flog im Fahrtwind wie ein Kutschermantel. Ollie neben ihm, kaum kleiner als er, beugte sich angespannt vor, während er den Suzuki quer über eine Wiese jagte, dass zwei Gemsen davonsetzten in den Schutz der Bäume.
Die Luft wurde dünner und kälter. Lukes Atem flog. Tau perlte ihm eisig über Wangen und Stirn. Seine Augen tränten; Tannenduft und der Kitzel des Anstiegs ließen sein Herz schneller klopfen. Der Wald schloss sich wieder um sie. Aus dem Unterholz blitzten rot die Augen von Tieren, ob groß oder klein, konnte Luke so rasch nicht erkennen.
Und dann lag die Baumgrenze hinter ihnen, und der Blick war wieder frei. Leichtes Gewölk schleierte vor einem sternenübersäten Himmel, in dessen Mitte sich eine schwarze,sternlose Leere auftat, eine turmhohe Leere, die sie hinab in den Berghang drückte, sie hinausquetschte über den Rand der Welt. Sie fuhren unter dem Überhang der Eigernordwand entlang.
»Sie kennen Ural-Berge, Dick?«, schrie Dima auf Englisch zu Luke hinter und drehte sich halb zu ihm um.
Luke nickte heftig und lächelte.
»Wie Perm! In Perm wir haben Berge wie hier! Sie kennen Kaukasus?«
»Nur den georgischen Teil!«, schrie Luke zurück.
»Ist genial hier, hören Sie, Dick? Genial! Für Sie auch, ja?«
Und einen Moment lang – obwohl dieser Polizist ihm immer noch Sorgen machte – fand auch Luke es genial, und das Gefühl hielt an, als sie zur Passhöhe der Kleinen Scheidegg hinaufruckelten und durch den orangeroten Lichterbogen rollten, den das große Hotel dort warf.
Dann ging es bergab. Zu ihrer Linken, mondlichtüberströmt, reckte sich sehniger, blauschwarzer Gletscherschatten. Von der anderen Talseite blinkten die Lichter von Mürren herüber, und durch das Baumdickicht, in das sie nun wieder eintauchten, zwinkerten schon die schwachen Lichtpünktchen von Wengen.
16
Für Luke fügten sich die Tage und Nächte in dem kleinen Alpenort Wengen zu einer sonderbaren Abfolge von Extremen, unerträglich im einen Moment, im nächsten ein ruhevolles Urlaubsidyll: die Großfamilie mit all ihren Freunden.
Das große, hässliche Ferienhaus, das Ollie ihnen ausgesucht hatte, lag am weniger überlaufenen Ende des Dorfs in dem Dreieck, das zwei Wanderwege bildeten. Im Winter beherbergte es einen Skiclub aus dem deutschen Flachland, im Sommer dagegen durfte jeder es mieten, der das Geld dafür hinblättern konnte, ob südafrikanische Theosophisten, norwegische Rastafaris oder käsige Ruhrgebietskinder. Eine Patchworkfamilie quer durch die Altersstufen und Nationalitäten passte da bestens ins Bild. Keiner der Sommerfrischler, die scharenweise am Chalet vorbeimarschierten, wandte auch nur den Kopf – zumindest laut Aussage Ollies, der viele freie Minuten damit verbrachte, aus den gardinenverhängten Fenstern im Obergeschoss Wache zu halten.
Vom Chalet aus betrachtet, war die Welt traumhaft schön. Wer aus dem ersten Stock schaute, der sah unter sich das berühmte Lauterbrunnental, über ihm ragte glitzernd das Jungfraumassiv
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