Verruchte Nächte - One Night with a Spy (03 Royal-Four)
nur noch verschwommen und ihre Knie wurden schwach. Sie zwinkerte mehrmals rasch hintereinander, riss sich zusammen. Sie hatte seit … drei Tagen nichts mehr gegessen. Aber das war egal. Sie würde essen, wenn sie etwas zu essen hatte. Es unterlag im Augenblick nicht ihrem Einfluss, also war es hinfällig, sich darüber Gedanken zu machen. Obschon sie, wenn sie wieder etwas essen würde, so viele Bratwürste und so viel Kartoffelbrei in sich hineinstopfen würde, wie eine Frau schaffen konnte.
Igby ging die Straße unter ihrem Fenster entlang.
Julia blinzelte, schüttelte den Kopf. Nein, das konnte nicht sein …
Es war so sicher wie das Amen in der Kirche. Er hielt gerade eine Wäscherin mit ihrem schweren Korb an und zeigte ihr ein Blatt Papier - wahrscheinlich war es eine Zeichnung von ihr, denn es gab hier weit und breit niemanden, der lesen konnte. Dann hörte er der Frau aufmerksam zu, die bedauernd den Kopf schüttelte.
»Igby!«, schrie Julia. Ihre Stimme konnte die Scheibe und den Straßenlärm draußen nicht durchdringen. Sie sah sich nach irgendetwas um, das sie …
Der Nachttopf! In kürzerer Zeit, als sie gebraucht hatte, darüber nachzudenken, ergriff sie das schmuddelige Ding und schleuderte es durch das Glas. »Igby!«
Ihre Stimme ging im Schreien der Leute draußen unter,
die den Inhalt eines häufig benutzten Nachttopfes auf den Kopf bekamen. Igby drehte sich um und betrachtete das Malheur, dann hob er den Blick und sah nach, woher das Ding gekommen war.
Julia zerrte so fest an ihrer Kette, dass sie ihr ins Fleisch schnitt. »Igby! Igby!« Sie winkte wild und so dicht am Fenster, wie sie konnte. Sie sah, wie er für einen Augenblick zögerte, wie sein Blick gleichgültig über ihre zerbrochene Fensterscheibe glitt - und wie er sich dann umdrehte und aus ihrem beschränkten Sichtfeld schlenderte.
Nein! Geh nicht! Graue Flecken tanzten vor Julias Augen und sie sank auf die Knie, ihr blutiges Handgelenk weit hinter sich gestreckt. Nein.
Die rauen Straßen von Cheapside kamen ihm finster vor, als hätte sich alle Welt mit ihrem Drängen und ihrem Gewirr gegen die Suche nach Julia verschworen. Marcus kämpfte gegen die Verzweiflung an, die ihm schier den Atem nahm. Er wusste, dass sie in der Nähe war, denn sie hatten die Mietdroschke ausfindig gemacht, die einen kleinen, freundlich aussehenden Mann und seine kranke Frau hierhergefahren hatte.
Zu wissen, dass er genau in der Gegend war, wo die beiden die Kutsche verlassen hatten, hätte ihm Mut machen müssen, aber als er sich in den engen, verwinkelten Gassen umgesehen hatte mit ihren Horden von bedürftigen Londonern, die misstrauisch seine feine Kleidung beäugten, da hatte er sich verzweifelt gefragt, wie er die einzige Silbernadel in einer Büchse voller blecherner finden sollte.
Eigentlich hätte Julia die lebenslange Loyalität eines jeden Cockney im Umkreis vieler Meilen gewinnen müssen, bevor die Uhr von St.-Mary-le-Bow zur vollen Stunde schlug; und sie hätte in der Hälfte der Zeit gefunden werden müssen. Denn Marcus hatte Elliots Zeichnung von ihr jedem
Ladenbesitzer und Anwohner und Lumpensammler gezeigt, dessen er habhaft werden konnte; wie auch das ehemalige Personal von Barrowby, das sich auf seinen unverfrorenen Hilferuf auf dem Dorfplatz von Middlebarrow zusammengefunden hatte.
In diesem Augenblick gingen Meg, der Koch, Beppo und die Igbys andere Straßen dieser brodelnden Hölle der Menschheit entlang und zeigten eilig angefertigte Skizzen des rundgesichtigen Mannes und ihrer vermissten Herrin in der Gegend herum.
Wenn sie hier war, dann würden sie sie auch finden.
Und doch wollte sich die wachsende Verzweiflung in Marcus’ Seele nicht durch Hoffnung oder gesunden Menschenverstand besänftigen lassen. Er hatte sie schon zu oft verloren - das letzte Mal, weil sie ihm nicht vertraut hatte. Und jetzt verlor er sie vielleicht für immer … er konnte spüren, wie der Faden, der sie aneinander band, sich auflöste. Er schloss die Augen. Nein. Ich kann dich nicht gehen lassen.
Jemand rempelte ihn an und ging ohne Entschuldigung weiter. Marcus konnte kaum atmen wegen des üblen Gestanks in diesen Hintergassen. Unrat floss in der Mitte der Gasse entlang, als lebten sie vor vierhundert Jahren. Das Rufen und Klirren und Rumpeln einfacher Leute umwirbelte ihn, als er unbeweglich dastand wie ein Fels in einem schlammigen Fluss.
Vielleicht war es aber auch die reine Panik, die ihm die Luft zum Atmen nahm. Sie war hier, in
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