verrueckt nach mehr
langsam um meinen Kreislauf fürchtete. Er tätschelte kurz meine Hand und sah sich um.
»Glaubst du, er kommt noch?«, fragte er flüsternd.
Der Kloß in meinem Hals steckte fest und das Atmen fiel mir schwer. Ich musste ständig schlucken. »Ich weiß nicht ...« Meine Stimme versagte.
Der Priester begrüßte alle Anwesenden und zitierte aus der Bibel. Seine Worte rauschten an mir vorbei, doch als er den Namen »Yvo Lovic« aussprach, brachen meine Tränen durch, und ich schluchzte wie fast alle um mich herum auch. Ich b e kam noch mit, wie der Priester ein Gebet sprach und darin Gott bat, den Jungen gnädig bei sich aufzunehmen. Warum hat er ihn nicht bei uns gelassen , dachte ich, bei seiner Familie , die ihn liebt? Und diese Worte des Priesters, die trösten sol l ten, kamen mir so unsinnig vor. Er erzählte noch etwas über das Leben und die Auferstehung »Jesu Christi«, die er i r gendwie in Bezug zu Yvos kurzem Leben setzte, aber ich nahm nichts mehr auf. Ich schloss die Augen und drückte mein Gesicht gegen Bojans Seite, bis die ganzen Gebete und Anrufungen vorbei waren. Ich war froh, als die Prozession losging und Bojan und ich weiter hinten mitliefen, während Jelena und Adriana, von Sanja und ihrem Mann flankiert, die erste Reihe bildeten. Der Regen kam noch stärker auf uns ni e der und durchnässte unsere Kleidung innerhalb weniger Min u ten. Ich suchte die Friedhofsumgebung vergeblich nach Sergio ab. Sicher war ich nicht die Einzige, die das tat. Jelena alle r dings schien aufgegeben zu haben. Ihr Kopf hing vornüberg e beugt. Sie wurde von Adriana und Sanja gestützt und Angelo hielt einen großen schwarzen Regenschirm über die Köpfe der Frauen.
Als der Priester der Meinung war, dass nun alle die Gra b stätte erreicht hatten, sprach er weitere Gebete und leitete die Grablegung ein. Der Regen vermischte sich mit vielen Tränen an diesem Tag, vor allem in dem Moment, als das Einsenken des kleinen Sarges begann.
Ich konnte nicht hinsehen.
Mit meinem Jackenärmel wischte ich mir übers Gesicht und sah zu Bojan hoch. Er hatte die Stirn in Falten gelegt und blinzelte heftig. Mit zusammengepressten Lippen verfolgte er die Zeremonie und stand mit eiserner Haltung neben mir. Ich war so froh, dass er hier war.
Ich sah mich erneut um.
Plötzlich sah ich in der Entfernung eine dunkle Gestalt, die in unsere Richtung blickte. Ich rubbelte mir die Feuchtigkeit aus den Augen und versuchte, mehr zu erkennen. Nein, es war nicht Sergio. Ich war mir ganz sicher. Die Gestalt sah vie l mehr wie Milan aus, Sergios Vater. Ich zupfte Bojan am Ä r mel und deutete mit dem Kopf.
Bojan erkannte ihn und nickte, doch er sagte nichts. Ung e rührt wandte er sich wieder ab.
Milan drehte sich um und verschwand zwischen den vi e len Gräbern. Ich sah ihn nicht wieder.
Als alle der Reihe nach etwas Erde auf den Sarg warfen und sich verabschiedeten, weinte Jelena so laut, dass es die ganze Welt gehört haben muss. Ihre Familie scharte sich um sie und stützte ihre Trauer, so gut sie konnte.
»Tschau, Kleiner«, flüsterte ich kaum hörbar und ließ krümelige, nasse Erde auf Yvos Sarg fallen. »Lex wird dich vermissen.«
Die Wohnung füllte sich mit den Trauergästen. Bojan, L u ka, Adriana und ich verzogen uns in Sergios Zimmer. Wir wussten nicht, was wir reden sollten, wir saßen einfach nur schweigend da. Aus dem Wohnzimmer drangen verschiedene Stimmen zu uns, die unwirklich klangen, als dürfte es sie nicht geben. Jemand hatte auch Musik angemacht. Schöne klan g volle Instrumentalmusik. Mehrfach hörten wir Sanjas klare Stimme durchdringen. Sie kümmerte sich darum, dass alle mit Essen und Trinken versorgt wurden.
Ab und zu putzte sich einer von uns die Nase.
»Ich hab immer wieder denselben Gedanken«, begann B o jan leise vor sich hinzumurmeln. »Wenn ich es geschafft hätte, ihn anzuschnallen ...« Fast gleichzeitig sahen wir ihn bestürzt an. Er saß eingefallen auf dem Schreibtischstuhl.
»Keiner ist schuld daran, was passiert ist, Bo!«, sagte A d riana mit Nachdruck. »Sergio hat es uns genau erklärt ... Er weiß, dass du alles versucht hast ...«
»Mann, ich will nicht wissen, welche Vorwürfe Sergio sich selber macht «, warf Luka ein. »In seiner Haut will ich nicht stecken.«
Adriana schluckte schwer. »Er ... er redet nicht darüber ... Es ist schrecklich«, sagte sie verzweifelt. »Ich wünschte, er ... Ich hab Angst, dass unsere Familie zerbricht.« Sie senkte den Kopf und schluchzte los.
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