verrueckt nach mehr
Vorsichtig legte ich einen Arm um ihre Schultern und zog sie zu mir her.
Im nächsten Augenblick hörten wir, wie die Wohnungstür aufgeschlossen und laut zugeschlagen wurde. Fast gleichzeitig schauten wir alle auf.
Und dann vernahmen wir Sergios Gebrüll. »Wie lange wollt ihr hier noch abhängen, verdammt?« Er schien wie a u ßer Kontrolle.
Laut stampfte er über den Flur. Im Nu war der Geräusc h pegel in der Wohnung abgesunken. Sogar die Musik hatte g e stoppt.
Jelenas Stimme ertönte. Wir zuckten regelrecht zusammen und horchten. »Wo warst du?«, schrie sie ärgerlich. »Wo warst du, hm? Warum konntest du deinem Bruder nicht die letzte Ehre erweisen? Was ist los mit dir? Denkst du nur an dich? Vielleicht haben wir dich gebraucht?«
»Jelena! ... Jelena, nicht!«, rief eine weibliche Stimme d a zwischen, aber Jelena hörte nicht auf sie. »Verdammt, Sergio, du bist nicht da, wenn man dich braucht! Kannst du mir erkl ä ren, warum du dich nicht anständig benehmen kannst? ... Ach, zum Teufel mit dir!«
Einen Moment herrschte absolute Stille.
»Genau, Mama, zum Teufel mit mir ...«, erwiderte Sergio bitter.
Plötzlich wurde die Zimmertür aufgerissen und er stand mitten unter uns. Als Erstes sah er zu mir, und ich erschrak bis ins Mark. Ich hatte ihn bereits in schlimmer Verfassung erlebt: grün und blau geschlagen, blutend, mit aufgeplatzten Lippen und zugeschwollenen Lidern. Aber jetzt sah er nicht aus wie er selbst, sondern wie sein dunkler Schatten. Der Ausdruck in seinem Gesicht war eine Mischung aus Zorn und Hilflosigkeit. Er wirkte übernächtigt und ausgelaugt.
»Sergio, deine Mutter ... nimm‘s ihr nicht übel«, sagte ich. Ich hatte das Gefühl, ihn beruhigen zu müssen. Trösten. U m armen. Aber sein Anblick lähmte mich. Adriana beobachtete ihn ängstlich.
»Ach ja, ihre Nerven, na klar ... «, sagte Sergio mit einem widerwilligen Unterton. Dann wandte er sich an Bojan und sah ihn mit einem durchdringenden Blick an. »Kann ich bei dir einziehen?«
Einen Moment lang schien unser gemeinsames Schweigen geradezu hypnotisch. Keiner rührte sich.
Bojan nickte schließlich wie in Trance. »Klar ...«, nusche l te er. Dann schien er zu begreifen. »Klar kannst du bei mir einziehen, Sergio ... jederzeit!«
»Wie viel Miete zahlst du?«, wollte Sergio wissen.
Bojan rutschte unbehaglich auf dem Stuhl hin und her. »Ist doch jetzt nicht so wichtig, echt nicht! Setz dich doch erstmal.«
»Sag mir, wie viel Miete du zahlst!« Sergios Vehemenz füllte den Raum bis in die letzten Winkel. Er starrte Bojan unnachgiebig an.
»Knapp ... knapp 450 €.«
»Ich geb dir einen monatlichen Anteil von 300. Ein Jahr im Voraus , einverstanden?«
»Sergio, wirklich ... Müssen wir jetzt über Geld reden?« Bojan sah hilflos um sich.
»Gib mir eine Antwort, Bo!«, verlangte Sergio schroff, und Bojan sah ihn erschrocken an. »Ja, geht klar, Mann, me i netwegen zahl Miete ...«
Luka erhob sich vom Boden. »Bist du sicher, dass du au s ziehen willst? ... Gerade jetzt?«
Sergio nahm tief Luft. »Ziemlich sicher!« In einem etwas ruhigeren Ton sagte er schließlich: »Helft ihr mir mit den S a chen?«
Bojan und Luka wechselten bedeutungsvolle Blicke mi t einander und nickten sich kaum merklich zu.
Sergio wandte sich an mich. »Tut mir leid, dass ich heute nicht ... nicht da war«, sagte er leise.
»Entschuldige dich lieber bei Mama«, nuschelte Adriana neben mir. Doch sie hatte so undeutlich und leise gesprochen, dass Sergio sie vermutlich nicht verstanden hatte.
»Ich bring dich nach Hause«, sagte er zu mir gebeugt und hielt mir seine Hand entgegen. Ich griff nach ihr und ließ mich vom Bett hochziehen. Es tat so gut, ihn zu berühren, auch wenn ich nicht verstand, warum er mich jetzt wegbringen wollte.
Sergio sah seine beiden Cousins eindringlich an. »Leiht mir einer von euch seinen Wagen?«
»Ich kann nicht. Meine Eltern brauchen ihn heute«, sagte Bojan achselzuckend.
Daraufhin kramte Luka seine Autoschlüssel aus seiner d i cken Weste hervor und schmiss sie Sergio wortlos zu.
Ich beobachtete ihn verstohlen aus den Augenwinkeln, während er uns durch den dichten Stadtverkehr lenkte. Er wirkte viel reifer als noch vor einem halben Jahr. Seine Haare waren ungekämmt und standen in alle Richtungen ab. Ab und zu strich er sich mit der flachen Hand über Stirn und Kopf, aber nicht um seine Frisur zu ordnen. Vielmehr schien es, als verlöre er sich im Sog seiner Gedanken. In seinem Innersten tobte ein
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