Verscharrt: Thriller (German Edition)
Blick sie jetzt im Nacken spürt. Aber keiner von beiden hat Zeit, sich lange auf den anderen zu konzentrieren. Kaum eine Minute später setzt sich Bradley auf und verkündet: » Wir haben eine Leiche. «
KAPITEL 11
Die Basecap sitzt auf einem gelb-braunen Schädel. Wo einst Augen waren, befinden sich jetzt zwei schartige Löcher, und in der Mitte darunter, wo die Nase saß, ein Dreieck. Zwischen Ober- und Unterkiefer sind kleine Zähne sichtbar. Es ist schon eine Weile her, seit O’Hara sich das letzte Mal einen menschlichen Schädel genauer angesehen hat, und sie ist erstaunt, wie rund und glatt die Formen sind, sehr viel erhabener ohne den unförmigen Überzug aus Haut und Gewebe. O’Hara hat das Gefühl, als würde der Schädel sie auch ohne Augen anstarren, und trotz des abscheulichen Anblicks liegt in der Stellung des Kiefers die Andeutung eines Lächelns. Kelso allerdings ist weit von einem Lächeln entfernt. Seine Unruhe ist so greifbar, dass O’Hara dem Impuls widersteht, sich umzudrehen und ihn anzusehen.
» Das ist aber doch kein schwarzer Mann, Bradley, oder? « , fragt Kelso gereizt.
» Nein. «
» Sehen Sie das an der Nasenöffnung? «
» Bei einem Afroamerikaner wäre das Loch grö ßer. «
» Und ein großer Mann ist das auch nicht « , sagt Kelso.
» Nein « , sagt Bradley, » sieht nicht so aus. «
Der Forensiker arbeitet sich stetig vom Kopf abwärts und legt ein gestreiftes Button-Down-Anzughemd frei. Sollte je die Möglichkeit bestanden haben, dass es sich hier um die Überreste eines einst ein Meter dreiundneunzig großen und hundertvier Kilo schweren Mannes handelt, so zerschlägt sich diese spätestens, als Bradley die Jeans des Toten freilegt. Von den schmalen Schultern bis zur Hüfte zeigt sich eindeutig, dass in der Kleidung die Überreste eines kleinen, zart gebauten Kindes stecken. Als Bradley die Knie erreicht, kann sich Kelso nicht mehr zurückhalten. » Das ist gar nicht der verdammte Wichser « , murmelt er. » Das ist gar nicht dieser verdammte Wichser. Das ist nicht der gottverdammte Scheißwichser. «
O’Hara hat ihm ein ganzes Warenpaket angedreht. Und nicht ein einziges ihrer zahlreichen Versprechen eingelöst. Statt der Leiche eines schwarzen Mannes, haben sie die eines weißen Kindes. Statt eines Opfers namens Charlie Faulk, zu dessen Ermordung sich bereits ein anderer Mann bekannt hat, lädt O’Hara einen Haufen unidentifizierte Knochen auf seinem Schreibtisch ab. Und statt eines weiteren durchgestrichenen Namens auf der Tafel und einer Aufklärungsrate von 91,66 Prozent, hat sich O’Hara einen unbekannten Toten angelacht. Missmutig sieht Kelso zu, wie Bradley Erde von zwei klitzekleinen Converse High-Tops pinselt.
KAPITEL 12
Das gerichtsmedizinische Labor befindet sich in einem Gebäude an der Ecke First und Thirthieth und ist genauso hässlich wie das Ukrainian National Home. Stark verweste Leichen werden in der am besten belüfteten Ecke des Kellers aufbewahrt. Bradley karrt den Toten herein, der noch immer in demselben orangefarbenen Sack steckt, in dem er aus dem Garten abtransportiert wurde, und parkt ihn neben einem archaisch anmutenden Röntgengerät. Es ist ein Uhr morgens, und Bradley bewegt sich mit der Bedachtsamkeit eines Mannes, der viel zu lange wach war. Nachdem statt eines vor langer Zeit getöteten schwarzen Junkies ein kürzlich verscharrtes weißes Kind gefunden wurde, scheint jetzt alles möglich und das vorher besprochene sechs-Stunden-Limit hinfällig. Bradley und sein Assistent siebten, maßen und fotografierten bis spät in die Nacht, und obwohl Kelso und Jandorek zwischenzeitlich zurück aufs Revier gefahren sind, blieb O’Hara im Garten, bis die Arbeit beendet war, und folgte der Leiche anschließend über die First Avenue ins Büro des Gerichtsmediziners. Bradley schiebt die Auffangschale unter ein Ende des Sacks. Dann richtet er den Röntgenapparat darauf aus und macht die erste Aufnahme. » Als ich hier angefangen hab « , erzählt Bradley, » sollte angeblich ein neues Röntgengerät auf dem aktuellsten Stand der Technik angeschafft werden. Wie Sie vielleicht schon erraten haben, ist es bei der Ankündigung geblieben. «
Bradley arbeitet sich die gesamte Länge des Leichensacks herunter, die Bilder werden jeweils entwickelt, während das nächste schon aufgenommen wird. Als er fertig ist, arrangiert er die vier überlappenden Aufnahmen auf dem Seziertisch und erhält so eine Gesamtaufnahme des Skeletts. In den darauffolgenden
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