Verscharrt: Thriller (German Edition)
einfällt, was der Forensiker erwidert hatte, als Kelso ihn zur Eile antreiben wollte. Ausgraben ist ein destruktiver Prozess. Man hat nur einmal die Chance, es richtig zu machen. Eigentlich lässt sich der Vergleich nicht auf Ermittlungen übertragen, und wahrscheinlich hat sie auch mehr als eine Chance, etwas richtig zu machen, aber ein wohlüberlegter Anfang könnte unnötige Umwege und jede Menge Zeit sparen. Endlich, beinahe widerwillig, setzt sie den Stift an: ein großes O und– einige Schlucke später– pfer. Darunter listet sie auf, was sie bislang weiß:
hellhäutig, vermutlich männlich, zirka zehn Jahre alt
Haarfarbe: blond, fast weiß
Größe: 140 cm
Ein weiterer Schluck führt zu einer zweiten Überschrift– » Grabbeigaben « . Diese unterteilt sie wie schon im Leichenschauhaus in drei Kategorien. Unter » Währung « führt sie auf:
Zwanzig-Dollar-Schein
5-Peso-Münze
25 - Yen-Münze
1 U-Bahn-Münze – nicht mehr gültig
eine Perle
eine Murmel
Unter » Werkzeug « schreibt sie:
1 Feuerzeug – weiblicher Oberkörper
1 Jointklammer
1 Schweizer Messer
Und unter » Unterhaltung « :
½ l Ballantine’s, ungeöffnet
1 Tütchen Gras, verschlossen
1 CD – Coldplay, » X&Y «
Als O’Hara ihr Werk betrachtet, überlegt sie, ob sie außerdem noch eine Liste mit Vollidioten anlegen und Kelso an erste Stelle setzen sollte, hält es dann aber für unfein, einen Mann zu treten, der schon am Boden liegt, zumal sie selbst dafür verantwortlich ist. O’Hara notiert eine andere vierte Überschrift, nämlich » Kleidung « , und schreibt darunter:
1 Basecap, New York Yankees
Anders als die meisten New Yorker, insbesondere Cops, hat O’Hara ein Herz für Underdogs. Sie ist Anhängerin der Mets, nicht der Yankees. Unterstützt die Jets, nicht die Giants. Und sie steht auf die Stones, nicht die Beatles. Ihr Ex-Freund, der Gerichtsmediziner Leibowitz, der ebenfalls Mets-Fan ist, hatte einmal gesagt, Steinbrenners Yankees anzufeuern wäre, als würde man nach Vegas fahren und der Spielbank Geld schenken. O’Hara führt die Liste der Kleidungsstücke fort und schreibt:
1 Hemd – blau-gelb gestreift.
1 T-Shirt – » The Germs « – sauber
O’Hara blickt von ihrer Liste auf, sieht die Barfrau in ihrem langärmeligen Kiss-T-Shirt und fragt sich, ob es auf dem derzeitigen Stand der Zivilisation möglich ist, anhand des Bandnamens auf jemandes Brust Rückschlüsse auf dessen Persönlichkeit zu ziehen. Dafür müsste man den genauen Grad an Ironie kennen, mit dem das Kleidungsstück getragen wird, und um dies zu erfahren, müsste man den Träger befragen. O’Hara hat keinen Zweifel daran, dass die Barfrau Kiss mag. Wie sollte man Kiss nicht mögen? Gleichzeitig trägt sie das T-Shirt mit einem gewissen Augenzwinkern. AC / DC -, Kiss- und Def-Leppard-T-Shirts sind Ausdruck einer gewissen Heavy-Metal-Ironie, ebenso wie T-Shirts mit Stones-, Led Zeppelin- oder Beatles-Aufdruck eine Ironie des Rockadels verraten. The Strokes lassen auf eine vorzeitige Ironie, Wings und Ted Nugent auf eine Ironie der Zweitplatzierten oder, falls Sie zu den Querdenkern gehören, eine Ironie der Unterschätzten schließen. Sicher ist nur eins, nämlich dass es dem Träger des T-Shirts nicht mehr nur um die Band geht, weil sich heutzutage niemand mehr unbesehen und öffentlich zu irgendwas bekennt, jedenfalls nicht zu Mick oder Keith und ganz bestimmt nicht zu Gene Simmons.
Die einzige Ausnahme könnte eine Band sein, die so obskur ist, dass niemand je von ihr gehört hat. Und O’Hara hat noch nie was von den Germs gehört, möglicherweise fallen sie also in jene letzte Kategorie, aber wer weiß das schon? Sie trinkt einen weiteren Schluck und fährt fort:
1 Jeans
1 Paar Turnschuhe – Converse High-Tops, weiß
(keine Socken, keine Unterwäsche)
Während O’Hara über ihre verschiedenen Listen nachdenkt, bekommt sie einen Anruf aufs Handy und einen bösen Blick von der Frau zu ihrer Linken, weil sie damit gegen die frühmorgendliche Etikette bei Milano’s verstößt. » Ich habe gerade noch was über das Opfer rausbekommen « , sagt Bradley. » Ich sag’s Ihnen lieber gleich, weil es helfen könnte, ihn zu identifizieren. Beim Säubern der Knochen ist mir ein Unterschied zwischen den beiden Oberschenkelknochen aufgefallen. Der linke ist verkrümmt und viel dicker, die Folge eines Bruchs, der nie gerichtet wurde. Nachdem er verheilt war, muss das linke Bein des Opfers einen guten halben Zentimeter kürzer
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