Verscharrt: Thriller (German Edition)
gerichtsmedizinische Labor. Ein Blick in Bradleys Augen verrät ihr, dass er die Stellung gehalten hat. Seine Pupillen sind so groß wie Fünf-Cent-Stücke.
» Um Himmels Willen « , sagt O’Hara. » Welche Drogen nehmen Sie? «
» Adderall « , sagt Bradley, » damit hab ich’s von Davenport in Iowa nach Harvard geschafft. Man fühlt sich jung damit. «
» Sie haben mit dem Scheiß schon in der Highschool angefangen? «
» Das Beste, was ich je gemacht habe. Innerhalb von zwei Monaten bin ich vom Versager zum hochgelobten Stipendiaten aufgestiegen. Ich brauchte keine Aufmerksamkeit, Vorbilder oder eine Standpauke, sondern nur ein kleines bisschen Unterstützung von der Pharmaindustrie. Kommen Sie, ich will Ihnen was zeigen, bevor die Wirkung nachlässt. «
O’Hara folgt Bradley an einen Leuchttisch, auf dem die Röntgenbilder des Kiefers liegen. » Hab mich etwa um ein Jahr vertan « , sagt Bradley. » Die ersten Backenzähne bekommt man mit ungefähr sechs, und wie Sie sehen, hat er sie schon. Die zweiten machen sich bereits bemerkbar– die Wurzeln sind teilweise ausgebildet–, aber normalerweise sind sie mit zehn schon da, und das bedeutet, dass er wohl doch eher erst neun Jahre alt war. Die Röntgenaufnahmen zeigen aber noch etwas, das zu dem unbehandelten Beinbruch passt. Sehen Sie die horizontalen Linien auf den Schneidezähnen? Wenn Sie das Röntgenbild leicht anheben, können Sie sie deutlicher erkennen. Jede Einzelne dieser Linien ist eine Form von Dysplasie, die nach einer schweren Krankheit oder nach hohem Fieber auf den Zähnen zurückgeblieben ist. Zum letzten Mal hab ich solche Linien gesehen, als ich von der Uni kam. Damals sollte ich im Auftrag des Staates Tennessee einen Indianerfriedhof umlagern, weil er einer Autobahn weichen musste. Da sie keine Schutzimpfungen oder Antibiotika bekamen, hat fast jeder Indianer, der das Erwachsenenalter erreichte, mehrere schwere Krankheiten überlebt. Diese Linien wurden immer wieder auf den Röntgenbildern der Kieferpartien sichtbar. «
Vielleicht hatte sie gar nicht so falsch gelegen, denkt O’Hara, als sie in dem Jungen einen Überlebenden sah. » Heißt das, er wurde misshandelt? «
» Das glaube ich nicht. Mit chronischer Misshandlung gehen häufig auch Mangelernährung, eine verzögerte Entwicklung und ein verzögertes Wachstum einher. Das kann ich hier nicht erkennen, aber ich glaube andererseits auch nicht, dass er medizinisch versorgt wurde. Und hier ist noch was « , sagt Bradley und wendet sich von den Röntgenbildern ab und dem Tisch mit dem Skelett zu. » Beim Säubern der Knochen habe ich diese kleinen braunen ovalen Hüllen gefunden. Das sind Madengehäuse, die von Insekten abgelegt worden sein müssen, bevor der Tote beerdigt wurde, sonst wären sie später nicht mehr drangekommen. Die Leiche muss an der Luft gelegen haben, bevor sie unter die Erde kam, was auch das fortgeschrittene Verwesungsstadium erklärt. Da Insekten ihre Eier im Frühjahr ablegen, schätze ich, dass die Leiche im späten Frühjahr oder im Frühsommer vergraben wurde, also in etwa um das Datum auf der Kinokarte herum. « Bradley reißt eine Tüte Erdnüsse auf und wirft sich eine Handvoll in den Mund. Leere tritt in seinen wässrigen Blick, während sein Kiefer die Nüsse zu Brei zermalmt.
Zu den weniger bekannten Nebenwirkungen von Adderall, denkt O’Hara, gehört anscheinend, dass man sich in ein Eichhörnchen verwandelt.
» Sonst noch was? «
» Ja. Ich habe mir auch das Loch im Schulterblatt noch mal genauer angesehen, die Stelle, wo die Kugel saß. « Bradley führt O’Hara ans andere Ende des Tisches und zeigt auf eine Vertiefung in dem bräunlichen Schulterblatt. Dann nimmt er eine neue Kugel mit 22er-Kaliber– das Original wurde längst ins Labor geschickt– und zeigt, wie haargenau die Spitze in die Vertiefung passt. » Als ich sah, dass die Kugel die Schulter in diesem Winkel getroffen haben muss « , sagt Bradley, » habe ich zuerst nachgesehen, ob noch etwas anderes verletzt wurde, und Beschädigungen an der dritten und achten Rippe gefunden, die darauf schließen lassen, dass sie von einem kleinen runden Gegenstand gestreift wurden. Die Kugel ist hier und da vorbeigeschrammt und wurde dann schließlich von der Schulter gestoppt. Ich habe eine Kollegin gebeten, sich das mal anzusehen. Sie war der Ansicht, die Kugel müsse einen Teil der Lunge erwischt haben. Je nachdem, wo genau, ist er rasch gestorben oder aber musste tagelang kämpfen. «
»
Weitere Kostenlose Bücher