Verscharrt: Thriller (German Edition)
ein Plastikreptil mit menschlichem Kopf hockt. An der Wand darüber steht die Frage: » Was ist das? « , als könne es sich theoretisch auch um etwas anderes als ein Stück Plastik handeln.
Um 23.20 Uhr haben die Hipster und Touristen die Strandpromenade längst verlassen, und das Publikum ist überwiegend puerto-ricanisch. Viele von ihnen befinden sich so kurz vor dem Wochenende in einem Schwebezustand zwischen Betrunkenheit und Kater. Die Show läuft nonstop in einer Endlosschleife, und der erste Darsteller, den O’Hara zu sehen bekommt, ist der dritte in der Reihenfolge der Angekündigten. Es handelt sich um Koko, der als ein Meter zehn großer Zwerg beworben wurde, und als er die Bühne betritt, fällt O’Hara wieder die ansteigende Flugbahn der tödlichen Kugel ein. Zum wahrscheinlich dreißigsten Mal an diesem Tag erzählt Koko, von energischen Becken- und Armbewegungen begleitet, von der Nacht, in der er seine Frau Evangeline in den Armen eines anderen Mannes erwischte und beide erstach.
Frank Harman alias The Human Blockhead betritt als Nächster die Bühne. Er schiebt sich erst eine Ahle in ein Nasenloch und verschluckt dann ein vierzig Zentimeter langes Schwert– » Ein Patzer, schon gibt’s Kratzer « . Laut Flyer sollte jetzt Miller dran sein, die unter dem Namen Xenobia auftritt, aber statt ihrer kehrt der bereits bekannte Zwerg auf die Bühne zurück. Er trägt jetzt den Harlekinanzug des Hofnarren und stellt sich als » Roland, der hundsmiserable Jongleur « dem Publikum vor. Zwerge sollten nichts Gemustertes tragen, denkt O’Hara. Das macht sie noch kleiner.
Die Zuschauer, sowieso schon verschwitzt und unruhig, werden stinkig. Sie haben drei Dollar hingeblättert und erwarten, etwas wirklich Freakiges geboten zu bekommen, aber Roland kann nicht noch kleiner werden. Sie bedenken ihn mit Buhrufen und zerknüllten Programmblättern, die ihnen als Wurfgeschosse dienen. » Hey, Koko! « , schreit einer. » Ich hab’s auch mit deiner Frau getrieben! « Und als sich der Zwerg umdreht, die Hose runterlässt und den Zwischenrufer auffordert, ihn am Arsch zu lecken, betrachtet O’Hara das als ihr Stichwort, den Theaterabend zu beenden.
Draußen lehnt ein schlanker junger Mann verwegen am Geländer der Uferpromenade. Er trägt einen Strohhut und Jeans, die er bis über die Knöchel hochgekrempelt hat, anscheinend ist er der Direktor, denn er erläutert einer sexy beidseitig Amputierten die Vorzüge seines Theaters.
» Mit der Sideshow « , führt er ohne eine Miene zu verziehen aus, » wird es dir gelingen, dich in einem neuen Kontext zu verorten und gleichzeitig zu den Ursprüngen einer Ikonografie zurückzufinden, mit der du ohnehin in Verbindung gebracht wirst. «
» Entschuldigen Sie « , sagt O’Hara. » Aber was war denn mit Xenobia? «
» Ich hab sie gefeuert. «
» Warum das? «
» Sie hatte ein Problem mit ihrer Einstellung. «
» Wahrscheinlich hat sie sich in einem neuen Kontext verortet « , sagt O’Hara.
» Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein? «
Bevor O’Hara geht, luchst sie dem postmodernen Zuhälter noch Millers Adresse ab und ruft auf dem Weg zum Wagen Jandorek an.
» Hab ein bisschen was über die Malmströmers rausbekommen « , sagt er. » Inga, die älteste Tochter, die jetzt achtundzwanzig sein muss, wurde nie angezeigt. So wahnsinnig viel Ärger kann sie also nicht gemacht haben. Und der Alte hat sie auch erst ’99 vermisst gemeldet, laut Bericht also ganze drei Jahre, nachdem sie abgehauen ist. «
» Was willst du damit sagen? «
» Weiß nicht. Dass ich das komisch finde. Die eine Tochter ist ihm so dermaßen wichtig, dass er sie nicht aus den Augen lässt, und die andere meldet er erst vermisst, als sie schon erwachsen ist. Das passt doch nicht zusammen. «
O’Hara ist schon lange nicht mehr in South Williamsburg gewesen. Zwanzig Minuten und ein paar Mal falsch Abbiegen später, befindet sie sich auf der South Kent, einer vollkommen baumfreien Straße, und schüttelt sich bei dem Gedanken an Bruno, der hier vergebens was zum Dranpinkeln suchen würde. Sie findet das Gebäude und fährt mit einem Lastenaufzug nach oben. Die Bodendielen darin sehen aus, als hätte man sie aus einer abgesoffenen Werft geklaut. O’Hara betrachtet ihren privilegierten Zugang zum New York der Randständigen als besondere Vergünstigung, die ihr der Job gewährt, denn sie hatte noch nie eine langweilige Unterhaltung mit einer Dragqueen oder einer Transe. Aber jemandem wie der
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