Verscharrt: Thriller (German Edition)
Täter beim Durchwühlen ihrer Schränke zu überraschen, war vernünftig.
O’Hara nimmt einen Schluck und erneut den Stift in die Hand. Unter die beiden Zeichnungen schreibt sie » Gus Henderson « und lenkt ihre Aufmerksamkeit vom Golf von Mexiko zurück in die East Third Street. Seit O’Hara den Sicherheitsgurt für den Rückflug anlegte, hat sie nicht mehr aufgehört, über die verblüffenden Diskrepanzen und Unstimmigkeiten zwischen dem, was Henderson angeblich getan hat, und dem, was sie nun weiß, nachzudenken. Der Versuch, die Einzelteile in immer wieder neuen Kombinationen zu verbinden, als wollte man das Rätsel eines Zauberwürfels lösen, das ganze fruchtlose Drehen und Wenden, stellen O’Haras innere Ausgeglichenheit auf eine harte Probe.
Laut Paulette hat Gus behauptet, einen großen schwarzen Mann getötet und unter dem schattigen Baum im Gemeinschaftsgarten begraben zu haben. Statt des von ihm beschriebenen Opfers wurde aber ein neunjähriger blonder Junge gefunden. Trotzdem stimmt die Fundstelle mit der von Paulette Beschriebenen haargenau überein, und jetzt stellt sich heraus, dass einer der Täter, der mit dem Jungen unterwegs war, zwar kein großer Afroamerikaner, aber immerhin ein großer dunkelhäutiger Typ war. Ist das Zufall? Wenn ja, dann widerspricht es dem ersten allgemeinen Grundsatz investigativer Arbeit, der da lautet: Zufälle gibt es nicht.
Anscheinend hat Henderson den Täter nicht getötet. Soweit O’Hara weiß, lebt er noch. Aber vielleicht wünscht sich der alte Mann so sehr, er hätte es getan, dass er glaubt, es wäre so gewesen, anschließend taten Zeit und Demenz ihr Übriges. Vielleicht sieht sich Gus als modernen Kreuzritter, ähnlich wie die Superhelden aus den Comics des Jungen, die Unrecht rächen und die Unschuldigen beschützen. Frustrierend ist nur der Verdacht, dass sich irgendwo in den angegriffenen Synapsen von Hendersons Hirn ein Film abspult, auf dem genau zu sehen ist, was in dem Garten passiert ist, so deutlich wie die Polaroid-Aufnahme des Weidenbaums, nur würde man eine Spitzhacke brauchen, um diesen freizulegen.
O’Hara genießt den Longdrink und die Stille. Bei Milano’s fühlt man sich ebenso von der Welt abgeschnitten wie in einer alten Telefonzelle, und so gewissenhaft, wie sich ihre Tresenkollegen ihren Getränken widmen, könnten sie sich auch in einer öffentlichen Bibliothek befinden. Der Anblick der zu Sklaven ihrer eigenen Abhängigkeit Gewordenen könnte an sich ernüchternd wirken, würde sie sich erlauben, länger darüber nachzusinnen. Stattdessen aber konzentriert O’Hara sich ebenfalls auf ihr Getränk und den vorliegenden Fall und ruft sich, um sich zu klareren Gedankengängen zu animieren, das widerwärtige Gelaber des einen Täters ins Gedächtnis: Sein Sohn solle wissen, womit sein alter Herr sein Geld verdiene. Der blanke Hohn, der darin steckt, sich eine so verdrehte Version eines Besuchs an Papas Arbeitsplatz auszudenken, bereitet O’Hara Kopfschmerzen. Ist der Kerl wirklich sein Vater? Wenn ja, dann hat niemand besser verstanden, womit sein alter Herr sein Geld verdient, als Herc, und niemand hat je weniger elterliche Fürsorge bewiesen als der Typ, der seinen neunjährigen Sohn verbluten ließ, egal wie lange es gedauert haben mag.
Unweigerlich schießen O’Hara Bilder der blutgetränkten Matratze und der verschmierten Comics in den Kopf. Sie kehrt zu ihrer Löffelzeichnung zurück und denkt an das siebenundachtzigjährige, knapp über fünfzig Kilo schwere Bantamgewicht, das sich diesen Arschlöchern entgegengestellt hat. O’Haras Ansicht nach ist Mut die wundersamste menschliche Eigenschaft. Sie widerspricht jeglicher Logik und jeglichem Eigeninteresse, und während sie sich ausmalt, was sich zugetragen hat, als der alte Mann mit seinem noch älteren 22er-Gewehr ins Schlafzimmer zurückkehrte, taucht eine zweite Frage auf: Warum hat Levin den Löffel wieder mit ins Schlafzimmer genommen? Warum hat er ihn nicht am Boiler liegen lassen? Hätte er ihn nicht zwischen Schuhe und Turnschuhe fallen lassen können, als er in den Schrank nach der Waffe griff?
O’Hara fällt eine mögliche Antwort ein. Bunny » Schoolboy « Levin hat den Löffel wieder mitgebracht, weil er auch mit siebenundachtzig Jahren immer noch für seine Kumpels an der Newark High eintrat und sie wissen lassen wollte, dass er so schnell nicht kleinzukriegen war. Levin hat den Löffel mit dem Gewehr wieder ins Zimmer gebracht, weil er ihn dem großen
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