Verschleppt: Linda Roloffs sechster Fall (German Edition)
klappernde Zähne, zitternde Körper, Knäuel von
Armen und Beinen, ineinander verhakt, um nicht über Bord gerissen zu werden. Donner
lässt alle zusammen fahren, Schreie gellen in die Nacht, Frauen kreischen, Männer
brüllen. Das einzige Kind an Bord weint.
»Festhalten!«,
schreit der Kapitän, doch seine Stimme wird von tosendem Wind und tobendem Wasser
verschluckt. Er hat die Silhouette des Riesen, die sich kaum gegen den nachtschwarzen
Wolkenhimmel abhebt, zu spät erkannt. Der Tanker taucht wie eine senkrecht aus dem
Wasser ragende Felswand vor dem Zodiac auf, der Kapitän reißt das Steuer herum,
in der bangen Hoffnung, dem Sog der Bugwelle zu entgehen und sein Boot zu retten.
Er weiß, welche Gefahr von den Ozeanriesen in der Straße von Gibraltar ausgeht,
er hat sogar schon am Tag kleine Schiffe untergehen sehen, die in die Fahrrinne
eines Tankers geraten waren.
Hadé hat
den Aufschrei des Kapitäns gehört, da sie nur wenige Meter von ihm entfernt am Boden
kauert, doch sie erkennt die Gefahr nicht. Sie sieht hinüber zu Ben, der wie die
meisten Männer auf der Reling Platz gefunden hat. Mit verkrampften Händen halten
sie sich an den Tauen fest und versuchen, sich gegenseitig Gleichgewicht zu geben.
Bei jedem Wellensprung des Zodiac vollführen ihre Oberkörper seltsame Bewegungen,
die Schultern scheinen zu tanzen, die Köpfe wackeln, die Beine hüpfen nach oben,
die Arme dehnen sich, um den Schwerpunkt der Körper auf dem Zodiac zu halten. Nur
bei Ben ist die Bewegung anders. Leichter, lebloser.
Sie starrt
ihn an, und als ein Blitz die Menschen an Bord erhellt, stellt sie entsetzt fest,
dass er seine Hände in Gebetshaltung auf dem Schoß liegen hat. Er betet! Ein zweiter
Blitz rauscht durch die Nacht und beleuchtet Bens Gesicht. Hat er die Augen geschlossen?
Hadé ist sich nicht sicher. Wie in Trance sieht sie seinen Körper wanken, als der
Kapitän das Boot in einem Wellental ausbremst, um dem Sog des Tankers zu entgehen.
Dann – plötzlich – ist Bens Silhouette verschwunden. Es ist zu dunkel, um mehr zu
erkennen – Hadé stockt der Atem – als der dritte Blitz zuckt, ist der Platz, an
dem Ben soeben noch saß, leer.
Wie von
einer unsichtbaren Hand gezogen, ist Ben über Bord gegangen. Hadé schnellt nach
oben, ihr Schrei geht unter im Dröhnen des Nebelhorns, mit dem der Tanker die Wendeaktion
des Zodiac kommentiert.
»Hinsetzen!«,
brüllt der Kapitän.
Salzige
Gischt dringt in ihren geöffneten Mund, sie wird zu Boden geschleudert und von Händen
und Füßen wieder auf ihren Platz bugsiert. Ihre Seele schreit, ihr Herz weint um
Ben, doch ihr Kopf weiß, dass er nicht mehr zu retten ist. Das Meer, die letzte
Hürde auf ihrer Flucht ins Paradies, ist sein Grab. Sie schlägt ein Kreuz, dann
greift sie wieder nach den Armen und Schultern neben sich, um nicht beim Angriff
der nächsten Sturmböe wie Ben über Bord zu gehen.
Sie bekommt
nicht mit, wie zwei weitere Menschen während der stürmischen Nacht ins Wasser stürzen.
Kein Schrei, kein letzter Gruß kündet von ihrem Sterben.
60
»Der Kerl treibt sich im Hafen herum
und fotografiert für eine Journalistin die Container«, sagte die Stimme aus Deutschland
schnarrend am Handy. »Er ist ein Schnüffler. Erledigt ihn wie immer. Ach ja, er
heißt Alan Scott.«
Der Angerufene
hörte jedes Wort und sein Blick verfinsterte sich.
»Was willst
du hier? Los, verschwinde!«, hörte er einen der Männer rufen und er erhob sich von
seinem Platz, von dem aus er das Entladen der Ware überwacht hatte. Der Mann, der
aus dem Schatten des Containers trat, war elegant gekleidet, dunkler Anzug, weißes
Hemd, Krawatte, schwarze Lackschuhe, die selbst im Staub des Hafens von Tin Can
noch glänzten.
Er sagte
laut, in beschwichtigendem Ton:
»Lass ihn.
Wollen erst mal sehen, was er will!«
»Ich suche
einen Mann namens Mahama!«, antwortete Alan und kam langsam näher.
»Mahama?
Und was willst du von ihm?«, kam es von dem Kahlgeschorenen zurück.
»Ihr habt
PCs zu verkaufen? Ich will mit ihm Geschäfte machen«, sagte Alan und deutete auf
den Pickup.
»Geschäfte?
Und wie heißt du?«
»Scott.
Alan Scott.«
»Dann komm!«,
rief der Elegante und winkte ihn herbei.
Das Bellen der Hunde war näher gekommen
und schreckte Linda auf. Sie hatte Hadé, die sie verängstigt anstarrte, an sich
gedrückt. Die Afrikanerin konnte nicht verstehen, dass ihre Tochter nicht mehr in
dem Versteck war, und eine Welt war für sie zusammengebrochen.
»Pass
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